VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 01.11.2017 - 2 K 5931/17.GI.A - asyl.net: M27848
https://www.asyl.net/rsdb/M27848
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen homosexuellen Mann aus Jamaika:

Homosexuelle Personen, die vorverfolgt ausgereist sind und denen es nicht zuzumuten ist, sich bei ihrer Rückkehr nach Jamaika unauffällig zu verhalten, sind wegen des nur begrenzten Schutzes durch die Polizei der realen Gefahr von Übergriffen auf Grund ihrer sexuellen Neigung ausgesetzt.

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Jamaika, homosexuell, Flüchtlingsanerkennung, Strafbarkeit, LSBTI, LGBTIQ, Vorverfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Ergehens dieser Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m §§ 3 ff. AsylG zuerkennt. [...]

Nach Überzeugung des Gerichts handelt es sich bei dem Kläger um einen Homosexuellen. Diese Annahme beruht auf dem Vortrag des Klägers und auf dem Gesamteindruck, den sich das Gericht von ihm in der mündlichen Verhandlung verschafft hat. Er gehört damit nach Überzeugung des Gerichts in Jamaika zu einer besonderen sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, weil Homosexuelle dort eine gemeinsame unveränderliche Eigenschaft haben und eine eindeutige Identität teilen, die als anders als die der umgebenden Gesellschaft wahrgenommen wird (vgl. hierzu Home Office, Country Policy and Information Note Jamaica: Sexual Orientation and gender identity, S. 4).

Dem Kläger, der nach seinem glaubhaften Vortrag bereits in Jamaika wegen seiner Homosexualität verfolgt wurde, droht wegen dieser Eigenschaft im Falle der Rückkehr nach Jamaika politische Verfolgung i.S.d. § 3c Nr.1 AsylG). [...]

Eine unmittelbare Verfolgung durch den Staat gem. § 3c Nr. 1 AsylG) hat der Kläger bis zu seiner Ausreise nicht erfahren. Ihm droht im Falle seiner Rückkehr auch keine tatsächliche Gefahr einer solchen Verfolgung. Eine solche könnte sich nur auf Grund der dort bestehenden Strafvorschriften ergeben, die sich wie folgt darstellen:

Nach Art. 76 des jamaikanischen StGB (JStGB) wird Analverkehr (buggery) zwischen Menschen (d.h. zwischen Männern oder zwischen Männern und Frauen) oder mit Tieren mit Gefängnis oder Zwangsarbeit bis zu 10 Jahren bestraft. Der Versuch ist nach Art 77 JStGB strafbar (Attempted Buggery). Ebenso steht nach Art. 79 JStGB auf schwere Unzucht (Outrages on Decency) eine Strafandrohung bis zu 2 Jahren. Eine wie auch immer geartete sexuellen Orientierung als solche steht dagegen nicht unter Strafe ebenso wie es kein Gesetz gegen "Hassverbrechen" gibt (Home Office, Country Policy and Information Note Jamaica: Sexual Orientation and gender identity, Februar 2017, S. 5, 10 f.).

Nach Überzeugung des Gerichts reicht die bloße Strafandrohung im Gesetz nicht aus, um eine staatliche Verfolgung zu begründen. Entscheidend ist vielmehr, dass die entsprechenden Handlungen auch tatsächlich strafrechtlich verfolgt werden. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn keine der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Dokumente gibt irgendwelche Hinweise auf eine tatsächliche Anwendung der genannten Strafvorschriften gegenüber Homosexuellen. [...]

Ebenfalls drohte und droht dem Kläger in Jamaika keine Verfolgung durch Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG). [...]

Dem Kläger drohte und droht jedoch Verfolgung i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG in der Form einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure. Eine solche führt nur dann zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens ist, Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten. [...] Nach Überzeugung des Gerichts ist der jamaikanische Staat grundsätzlich willens, Homosexuelle, Bisexuelle, Lesben und Transgender (LGBT), die sich dort offen zu ihrem Anderssein bekennen, vor Übergriffen Dritter zu schützen.

Was die Zahl der Übergriffe auf sog. LGBT angeht, gibt es unterschiedliche Zahlen. J-FLAG (The Jamica Forum for Lesbians, All-Sexuals and Gays), eine Organisation, die sich für LGBTs (Lesbian, Gays, Bisexuals, Transgender) einsetzt, spricht für das Jahr 2014 von 88 Menschenrechtsverletzungen und für das Jahr 2015 von insgesamt 52 Ereignissen mit 47 Personen, die J-FLAG angezeigt worden seien. Amnesty International spricht für Januar bis Juni 2016 von 23 Personen, die sich deshalb bei J-FLAG gemeldet hätte (Amnesty International, Jamaika 2017, S. 3). Die Dunkelziffer ist allerdings groß.

Der generell von Klägerseite erfolgende Vortrag, die Polizei in Jamaika schütze sie nicht, weil sie korrupt, ebenfalls homophob oder schlicht überlastet sei (vgl. hierzu auch Home Office, a.a.O., S. 16 - 19), findet in den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen in dieser allgemeinen Form keine Grundlage. [...]

Allerdings gibt es ernstzunehmende Berichte, dass die Polizei auch deshalb kaum Täter ermittelt, weil sie - jedenfalls in Teilen - ebenfalls homophob ist. Dies ist durchaus glaubhaft vor dem Hintergrund, dass die Abneigung gegen LGBT jedenfalls in der jamaikanischen Unterschicht tief verwurzelt ist (Home Office, a.a.O., S. 19 ff.; J-FLAG, a.a.O., S. 9 ff.; ilga, a.a.O., S. 114; Amnesty International Report Jamaika 2017, S. 3; Wikipedia - Jamaika, S. 10) und dass die Polizei partiell diese Homophobie teilt (J-FLAG, a.a.O., S. 16 ff.). Im Übrigen ist das gesamte Justizsystem überlastet, schlecht ausgestattet und ineffektiv (Home Office, a.a.O., S. 23). [...]

Ob ein Homosexueller in Jamaika vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen tatsächlich Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG befürchten muss, hängt nach Überzeugung des Gerichts vom jeweiligen Einzelfall ab (so u.a. Home Office, a.a.O., S. 6). [...]

Zusammenfassend ist das Gericht auf Grund dessen der Überzeugung, dass ein homosexueller Kläger, der vorverfolgt ausgereist ist und dem es nicht zuzumuten ist, sich bei seiner Rückkehr nach Jamaika unauffällig zu verhalten, wegen des nur begrenzten Schutzes durch die Polizei der realen Gefahr von Übergriffen auf Grund seiner sexuellen Andersartigkeit ausgesetzt ist. [...]

Es wird jedoch auch über gewisse Fortschritten berichtet. [...]