VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 20.02.2019 - 2 K 1522/17.A - asyl.net: M27863
https://www.asyl.net/rsdb/M27863
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen homosexuellen Mann aus Nigeria

Homosexuelle sind nach aktueller Erkenntnislage als soziale Gruppe in Nigeria sowohl nichtstaatlicher als auch staatlicher Verfolgung ausgesetzt.

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Nigeria, homosexuell, soziale Gruppe, nichtstaatliche Verfolgung, Strafbarkeit, sexuelle Orientierung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Homosexuelle bilden in Nigeria eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG (so bereits VG Aachen, Urteil vom 12. Dezember 2014 – 2 K 1477/13.A; vgl. auch: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 07. März 2013 – A 9 S 1873/12 –, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 18. Dezember 2015 – 9a K 3162/15.A –, VG Oldenburg, Urteil vom 25. Juni 2018 - 1 A 1481/15; jeweils juris).

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemeinsam haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter.

Diese gesetzlichen Vorgaben entsprechen auch dem europäischen Recht, wie es Niederschlag in Art. 10 Abs. 1 lit. d der Qualifikationsrichtlinie RL 2011/95/EU (zuvor auch in Qualifikationsrichtlinie a.F. - 2004 -) gefunden hat. Nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom 7. November 2013 in den verbundenen Rechtssachen C-199/12 bis C-201/12; dazu auch Nora Markard, EuGH zur sexuellen Orientierung als Fluchtgrund, Asylmagazin 2013, S. 402 ff.; ferner Hruschka/Löhr, Das Konventionsmerkmal "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" und seine Anwendung in Deutschland, NVwZ 2009, 206) ist Art. 10 Abs. 1 lit. d der Qualifikationsrichtlinie a.F. (RL 2004/83/EG) dahin auszulegen, dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind. Zwar stelle allein der Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher noch keine Verfolgungshandlung i.S.d. Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 9 Abs. 2 lit. c der Qualifikationsrichtlinie a.F. dar. Seien hingegen homosexuelle Handlungen mit Freiheitsstrafen bedroht und werden sie im Herkunftsland, das eine entsprechende strafrechtliche Regelung erlassen hat, auch tatsächlich verhängt, so ist dies als unverhältnismäßige diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar. Nicht beanstandet hat der EuGH die Regelung, dass vom Geltungsbereich der Richtlinie die homosexuellen Handlungen ausgeschlossen sind, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten strafbar sind. Andererseits können bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen Behörden nicht erwarten, dass der Schutzsuchende seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Da Homosexualität ein für die Identität einer Person so bedeutsames Merkmal darstellt, dass sie nicht zu einem Verzicht darauf gezwungen werden sollte, ist aufgrund des Bestehens strafrechtlicher Bestimmungen in Nigeria, die spezifisch Homosexuelle betreffen, davon auszugehen, dass homosexuelle Personen in Nigeria eine deutlich abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen, sind homosexuelle Handlungen jeglicher Art in Nigeria sowohl nach säkularem Recht (mit zeitiger Freiheitsstrafe - bei vollzogenem Verkehr mit einer Freiheitsstrafe bis zu 14 Jahren) als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar. Im Januar 2014 hat der Präsident Nigerias - Goodluck Jonathan - ein weiteres Gesetz mit dem Namen "Same Sex Marriage (Prohibition) Bill" unterzeichnet. Bis zu vierzehn Jahren Haft droht Homosexuellen, wenn sie einen (verbotenen) Ehevertrag oder eine (verbotene) zivilrechtlich eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingehen. Personen, die an einer solchen Zeremonie teilnehmen oder sie unterstützen, drohen zehn Jahre Haft. Wer öffentlich die Liebesbeziehung zu einem Menschen gleichen Geschlechts "direkt oder indirekt zeigt", muss für bis zu zehn Jahre ins Gefängnis. Unterstützer von LGBTI-Organisationen können mit bis zu 10 Jahren Haft bestraft werden (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) vom 10. Dezember 2018, 12 und 15; Bundesamt (BAMF), Briefing Notes vom 20. Januar 2014; Deutsche Welle vom 14. Januar 2014: "Nigeria führt hohe Haftstrafen für Homosexuelle ein"; BBC News vom 15. Januar 2015: "Nigeria: Islamic court tries gay suspects in Bauchi"; Human Rights Watch vom 16. Januar 2014: Nigeria: "Anti-LGBT Law Threatens Basic Rights"; ACCORD vom 29.11.2016: "Informationen zur Verhaftung oder Verurteilung von Homosexuellen in den Jahren 2015 und 2016"). [...]

Auch wenn konkrete Verurteilungen nach der Same Sex Marriage Bill bisher nicht bekannt sind, wird seit Inkrafttreten des Gesetzes über Verhaftungen in den nördlichen Bundesstaaten und Bestrafungen durch ein Scharia-Gericht berichtet (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 20. Januar 2014; Deutsche Welle vom 14. Januar 2014: "Nigeria führt hohe Haftstrafen für Homosexuelle ein"; BBC News vom 15. Januar 2015: "Nigeria: Islamic court tries gay suspects in Bauchi"; Human Rights Watch vom 16. Januar 2014: Nigeria: "Anti-LGBT Law Threatens Basic Rights"; Taz, vom 17. Januar 2014: "Hatz auf schwule Sündenböcke, Nigeria").

Zudem sind LGBTI Personen noch häufiger Opfer von Mob-Angriffen und Polizeigewalt. Nach der Auskunftslage des Auswärtigen Amtes kam es im Juli 2017 und im Juli 2018 zu Massenverhaftungen von homosexuellen Männern im Bundesstaat Lagos (2017 wurden 74 Männer festgenommen, 2018 57). Kurz nach den Verhaftungen wurde allerdings die überwiegende Mehrheit der Inhaftierten auf Kaution aus der Haft entlassen. Ob die übrigen Personen noch in Haft sind, bzw. wie viele davon ist unklar (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) vom 10. Dezember 2018, 12, ACCORD vom 29.11.2016: "Informationen zur Verhaftung oder Verurteilung von Homosexuellen in den Jahren 2015 und 2016").

Zwar versuchen Homosexuelle aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und der weit verbreiteten Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen. Deshalb werden strafrechtliche Verfolgungen einvernehmlicher homosexueller Handlungen selten bekannt. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass solche Handlungen angeklagt und verfolgt werden und beschuldigte Personen bei einer Verhaftung zur Zahlung von Bestechungsgeldern oder "Kaution" erpresst werden und weiteren schweren Menschenrechtsverletzungen, insbesondere der Anwendung von Gewalt, und Folter ausgesetzt sein können (vgl. dazu ACCORD vom 29.11.2016: "Informationen zur Verhaftung oder Verurteilung von Homosexuellen in den Jahren 2015 und 2016").

Unter Berücksichtigung des gesetzlichen Rahmens und der gerichtlichen Praxis handelt es sich bei der Ahndung homosexueller Handlungen um eine unverhältnismäßige, diskriminierende Strafverfolgung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG. Darüber hinaus besteht aufgrund der Gesetzeslage und unter Berücksichtigung des Verfolgungsschicksals des Klägers auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Nigeria gesetzlichen, administrativen und justiziellen Maßnahmen ausgesetzt sein wird, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewendet werden im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG.

Der Kläger wäre bei einer Rückkehr nach Nigeria gezwungen, seine sexuelle Orientierung zu verheimlichen. Dies kann aber zum einen nach der oben zitierten Entscheidung des EuGH vom Kläger nicht erwartet werden, zum anderen hat der Kläger seine Verbundenheit mit der sozialen Gruppe der Homosexuellen durch seine Teilnahme an der Demonstration bereits öffentlich gezeigt. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass er sich auch in Zukunft für Homosexuelle einsetzt bzw. seine eigene Homosexualität mehr oder weniger offen lebt und sich zu dieser bekennt und daher (erneut) der konkreten Gefahr von Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 und 3 AsylG ausgesetzt wäre.

Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass derzeit für den Kläger eine interne Schutzmöglichkeit i.S. von § 3 e AsylVfG besteht. Nach der derzeitigen Erkenntnislage ist nicht ersichtlich, dass in größeren Städten oder urbanen Zentren Homosexualität toleriert wird. Dem steht zum einen die bereits oben ausgeführte Rechtslage auch im Hinblick auf Personen, die von homosexuellen Beziehungen Kenntnisse haben, entgegen. Zum anderen lässt sich den Erkenntnisquellen entnehmen, dass hinsichtlich der Verfolgungsgefahr kein signifikanter Unterschied mehr zwischen größeren Städten und dem übrigen Land besteht, wenn eine Homosexualität bekannt wird (vgl. SFH vom 24. Oktober 2012, Nigeria: Homosexualität sowie ai, Auskünfte vom 9. und 15. November 2012, jeweils mit weiteren Nachweisen; AA, Auskunft an VGH BW vom 15. November 2012). [...]