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VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 13.06.2018 - 6 K 268/16.A - asyl.net: M27865
https://www.asyl.net/rsdb/M27865
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen homosexuellen Mann aus der Russischen Föderation:

Homosexuellen Menschen droht in der Russischen Föderation Verfolgung in Gestalt von physischer und psychischer Gewalt durch nichtsstaatliche Akteure, ohne dass der russische Staat wirksamen Schutz hiervor bietet.

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Russische Föderation, Russland, homosexuell, LSBTI, Flüchtlingsschutz, sexuelle Orientierung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e, GG Art. 16a,
Auszüge:

[...]

Soweit der Kläger die Anerkennung als Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG, als Asylberechtigter im Sinne des § 16a des Grundgesetzes (GG), die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG und die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliegen, begehrt, ist die Klage zulässig und insbesondere als Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO statthaft. [...]

Das Gericht ist unter Berücksichtigung des gesamten Asylvorbringens des Klägers sowie des von ihm in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks zu der Überzeugung gelangt, dass er sich in Bezug auf die Situation in seinem Herkunftsstaat angesichts seiner individuellen Umstände in einer flüchtlingsschutzrechtlich relevanten ausweglosen Lage befindet, für die das Schutzversprechen des § 3 Abs. 1 AsylG (begründete Furcht vor Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe homosexueller Menschen) den Flüchtlingsstatus verspricht. [...]

Homosexuelle Menschen gehören in der Russischen Föderation zu einer sozialen Gruppe im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Die sexuelle Ausrichtung einer Person stellt ein Merkmal dar, das im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a AsylG so bedeutsam für die Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden darf, auf sie zu verzichten. Es kann auch nicht erwartet werden, dass die Sexualität im Herkunftsland geheim gehalten oder Zurückhaltung beim Ausleben der sexuellen Ausrichtung geübt wird, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden, wenn es zur selbstverstandenen Identität der betroffenen Person gehört, die eigene Sexualität zu leben (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - Rs. C-199/12 u.a. -, juris). [...]

Die Personengruppe der LGBT-Menschen besitzt in der Russischen Föderation ausweislich der klägerseits angesprochenen und der gerichtlicherseits ins Verfahren eingeführten Erkenntnisse zur Situation in der Russischen Föderation eine deutlich abgegrenzte Identität im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b AsylG, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (so bereits VG Potsdam, Urteil vom 27. April 2017 - 6 K 338/17.A -, juris Rn. 28). Homosexualität wie auch sonst die Zugehörigkeit zu sexuellen Minderheiten ist in der russischen Gesellschaft ein Tabuthema. Personen, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, müssen damit rechnen, sozial ausgegrenzt zu werden. In der Bevölkerung nehmen starke Vorbehalte zu, seitdem sie durch die orthodoxe Kirche und islamische Prediger, zunehmend auch durch staatliche Medien und durch in den sozialen Netzen aktive homophobe russische Bürger gefördert werden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21. Mai 2018, S. 11). Auch ist Homosexualität in Russland nicht strafbar, jedoch ist die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in der russischen Gesellschaft gering. Es kommt immer wieder zu Übergriffen auf Homosexuelle, z.B. bei öffentlichem Zeigen gegenseitiger Zuneigung (Auswärtiges Amt, Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, Stand: 11. Juli 2018, abrufbar unter www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederationnode/russischefoederationsicherheit/201536. [...]

Der Kläger hat wegen seiner sexuellen Ausrichtung bei Rückkehr in die Russische Föderation Verfolgung in Gestalt physischer und psychischer Gewalt begründet zu befürchten, vgl. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 AsylG. Diese Verfolgung droht ihm durch nichtstaatliche Akteure, ohne dass der russische Staat wirksamen Schutz hiervor bietet, §§ 3c, 3d AsylG, und ohne dass ihm interner Schutz zur Verfügung steht, § 3e AsylG. [...]