LSG Sachsen-Anhalt

Merkliste
Zitieren als:
LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11.06.2019 - L 8 AY 5/19 B ER - asyl.net: M27868
https://www.asyl.net/rsdb/M27868
Leitsatz:

Abweisung eines Eilantrags gegen Leistungskürzungen wegen Schutzzuerkennung in Griechenland:

1. Es bestehen keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Anwendung von § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG (in der bis 2019 geltenden Fassung).

2. Es ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zumutbar, die abschließende Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 BvR 1719/17).

3. Die Regelung in § 1a Abs. 4 AsylbLG beruht nicht auf allgemeinen migrationspolitischen Erwägungen. Ihr Ziel ist es, die in einem anderen Mitgliedstaat entstehende rechtswidrige Leistungszuständigkeit auszugleichen, die dadurch entsteht, dass Personen, denen bereits in einem Mitgliedstaat der EU Schutz zuerkannt wurde, eine ihnen rechtlich nicht zustehende Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union für sich in Anspruch nehmen.

4. Die Regelung des § 1a Abs. 4 AsylbLG dürfte nur dann außer Acht gelassen werden, wenn das erstinstanzliche Gericht zu dem Schluss kommt, dass in dem anderen Mitgliedstaat eine Verletzung von Art. 3 EMRK droht. Diese Feststellung muss anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls erfolgen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sozialrecht, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialleistungen, Leistungskürzung, Leistungseinschränkung, Anspruchseinschränkung, internationaler Schutz in EU-Staat, ausländische Anerkennung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Europäische Menschenrechtskonvention, Verfassungsmäßigkeit, Bundesverfassungsgericht,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 4 S. 2, AsylbLG § 3, AsylbLG § 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Der Senat hat keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Anwendung von § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG in der seit dem 3. August 2016 geltenden Fassung. Das BVerfG hat bisher nicht über die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG in der seit dem 3. August 2016 geltenden Fassung entschieden. Vielmehr hat die 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG in seinem Nichtannahmebeschluss vom 19. September 2017 deutlich gemacht, dass ein Zuwarten bis zu einer abschließenden Entscheidung in der Hauptsache insoweit nicht unzumutbar in die Grundrechte der dortigen Beschwerdeführer eingreife (vgl. BVerfG (Kammer), Beschluss vom 19. September 2017 - 1 BvR 1719/17 -, juris). Im Übrigen wird in dieser Entscheidung betont, was auch der stetigen Rechtsprechung des 8. Senats des LSG Sachsen-Anhalt entspricht, dass die Nichtigerklärung von Gesetzen der Normenkontrolle des BVerfG oder der Verfassungsbeschwerde nach Ausschöpfung des Rechtsweges im Hauptsacheverfahren vorbehalten ist. Ein Ausnahmefall, der den Senat berechtigen könnte, von der Anwendung der bisher nicht für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Regelung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes bis zu einer Entscheidung des BVerfG abzusehen, liegt nicht vor (vgl. zum Verhältnis von Art. 100 Grundgesetz und § 123 VwGO auch: BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1992 - 1 BvR 1028/91 - BVerfGE 86, 382, 389). Das Bundessozialgericht (BSG) hat die bis zum 2. August 2016 geltende Fassung des § 1a AsylbLG nicht für verfassungswidrig erachtet hat (vgl. BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R -, juris). Soweit das Sozialgericht diese höchstrichterliche Rechtsprechung unter den Vorbehalt des Ergebnisses des insoweit anhängigen Verfahrens über eine Verfassungsbeschwerde stellt, kann dies bereits in Bezug auf die allgemeine Bedeutung einer Verfassungsbeschwerde nicht nachvollzogen werden, die nicht regelhaft in die Aufhebung höchstrichterlicher Entscheidungen mündet. Im Übrigen hat der Senat weder Kenntnis von dem Akteninhalt des vor dem BSG anhängig gewesenen Revisionsverfahrens noch von dem Schriftverkehr im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde, sodass die Prognose des Sozialgerichts auch bezogen auf den konkreten Sachverhalt nicht bewertet werden kann.

Die Regelung in § 1a Abs. 4 AsylbLG begründet sich nicht in allgemeinen migrationspolitischen Erwägungen, sondern gleicht die in einem anderen Mitgliedstaat entstehende rechtswidrige Leistungszuständigkeit aus, die dadurch entsteht, dass ein individueller bereits in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union anerkannter Schutzsuchender eine ihm rechtlich nicht zustehende Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union für sich in Anspruch nimmt. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass das Gesetz in § 11 Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylbLG selbst innerhalb Deutschlands bei einem Zuwiderhandeln gegen asyl- oder ausländerrechtliche räumliche Beschränkungen regelmäßig nur die Gewährung einer Reisebeihilfe zur Deckung des unabweisbaren Bedarfs für die Reise zum rechtmäßigen Aufenthaltsort vorsieht, wobei die Leistungen als Sach- oder Geldleistungen gewährt werden können.

Raum, die Regelung in § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG außer Acht zu lassen, bliebe hier nur insoweit, als die von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in eigener Verantwortung vorzunehmende Prüfung (siehe BSG, Urteil vom 27. Februar 2019 - L 7 AY 1/17 R -, Terminbericht) zu dem Ergebnis führen würde, dass ein weiterer Aufenthalt der Ast. in Griechenland unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK ausgeschlossen ist. Die EMRK steht im Rang eines einfachen Bundesgesetzes (vgl. z.B. BVerfG, Urteil vom 12. Juni 2018 - 2 BvR 1738/12 u.a. -, juris, RdNr. 127), d.h. gesetzgeberisch auf demselben Rang wie § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG. Die EMRK dient aber gleichzeitig auch der Konkretisierung von verfassungsmäßigen Garantien und rechtsstaatlichen Grundsätzen (vgl. BVerfG, ebenda, RdNr. 130). Insoweit haben das Bundesverwaltungsgericht (z.B. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25/18 -, juris, RdNr. 9 m.w.N.) und in neuen Entscheidungen der Europäische Gerichtshof (vgl. für Italien: EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - Abubacarr Jawo gegen Bundesrepublik Deutschland - C-163/17 -, curia.europa.eu/juris, RdNr. 85ff.) in für den Senat überzeugender Weise die Maßstäbe konkretisiert, an denen die Unzumutbarkeit einer Rückführung in andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union unter dem Gesichtspunkt der dort vorherrschenden Lebensbedingungen für Schutzsuchende zu messen ist. Insbesondere genügt eine auch große Differenz in dem Standard der Versorgung von Flüchtlingen nicht, um eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu belegen. Maßgebend ist insoweit das individuelle Schicksal der betreffenden Schutzsuchenden. Hierzu ist von den Ast. nichts vorgetragen worden. Der allgemeine Hinweis auf eine Einreise aus Griechenland genügt insoweit nicht. Im Übrigen steht hier der allein aus allgemeinen Erkenntnissen geschlussfolgerten Annahme, dass den Ast. in Griechenland eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung drohen könnte, entgegen, dass bisher weder die Identität noch der Einkommens- und Vermögensstatus der Ast. geklärt ist. Die Frist für die Angaben zum Ehemann der Ast. zu 1. und dem Vater des Ast. zu 2. ist seit dem 1. Januar 2019 ergebnislos verstrichen. [...]