VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 15.08.2018 - 1 K 6747/17.KS.A - asyl.net: M27870
https://www.asyl.net/rsdb/M27870
Leitsatz:

Anerkennung als Asylberechtigte und Flüchtlingsschutz für eine lesbische Frau aus Jamaika:

Zwar ist Homosexualität an sich in Jamaika nicht strafbar, sondern nur Sexualpraktiken, die typisch für homosexuelle Männer sind. Dennoch wird Homosexualität von der Gesellschaft stark geächtet, so dass im Enzelfall auch lesbische Frauen Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt sein können, ohne Schutz von staatlicher Seite erwarten zu können.

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Jamaika, homosexuell, Strafbarkeit, lesbisch, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Flüchtlingsanerkennung, Asylberechtigung,
Normen: GG Art. 16a, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte, da ihr im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland eine politische Verfolgung i.S.d. § 16a Abs. 1 GG droht. [...]

Zur Überzeugung des Gerichts ist die Klägerin vorverfolgt ausgereist; die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen kann im Falle einer Rückkehr nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. [...]

Gegen diese Verfolgung konnte die Klägerin auch keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen. Zwar ist Homosexualität als solche in Jamaika nicht illegal. Unter Strafe gestellt sind im Rahmen des "Offences against the Person Act" analer Geschlechtsverkehr ("Buggery", Artikel 76), welcher mit Gefängnisstrafe und schwerer Arbeit bis zu zehn Jahren bedroht ist, und Handlungen von grober Anstößigkeit unter Männern ("Acts of Gross Indecency", Artikel 79) (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten ... u.a. zur Lage der Homosexuellen auf Jamaika vom 8. Juli 2008, BT-Drucks. 16/9953, S. 2; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 9. Juni 2015).

Jedoch wird Homosexualität in Jamaika ausweislich der Erkenntnisquellen von der Gesellschaft
stark geächtet, so dass Homosexuelle daher teilweise mit gewalttätigen Übergriffen zu rechnen haben (vgl. AA, Reise- und Sicherheitshinweise Jamaika, vom 6. Juni 2016; Basler Zeitung, 13. August 2013, Wo Homosexualität nur im Untergrund existiert; taz, 6. November 2012, Homosexuelle in Jamaika, Versuchter Lynchmord).

Die jamaikanische Regierung hat zwar einige Bemühungen unternommen, um für ein größeres Verständnis der Belange der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendergemeinschaft (LGBT) zu werben. [...]

Im Falle der Klägerin führt dies jedoch nicht dazu, dass man davon ausgehen könnte, dass sie im Falle einer Rückkehr mit ihrer Lebensgefährtin einigermaßen sicher vor privater Verfolgung leben könnte. Dagegen spricht schon der Umstand, dass das Paar trotz mehrerer Umzüge immer wieder asylrelevanten Maßnahmen ausgesetzt war und damit eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann.

Auch stand und steht der Klägerin keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Die Kammer geht zwar in ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 21. Juli 2016 - 1 K 7/16.KS.A - und Urteil vom 26. April 2018 - 1 K 4813/17.KS.A - ) davon aus, dass Homosexuellen in Jamaika gegenwärtig und in absehbarer Zukunft eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stand und steht, insbesondere an der Nordküste des Landes bei touristischen Hotels. Zudem hat der jamaikanische Staat in der Hauptstadt Kingston für obdachlose Homosexuelle ein Obdachlosenheim geschaffen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 9. Juni 2015). Dies gilt jedoch nicht für die Klägerin und ihre Lebensgefährtin, da sie, wie die Klägerin überzeugend geschildert hat, landesweit verfolgt wurden. [...]

Die Klägerin hat auch gem. § 3 Abs. 1, 4 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) da sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Insoweit wird auf bereits Gesagtes verwiesen. [...]