VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 26.09.2019 - A 19 K 3124/17 - Asylmagazin 5/2020, S. 164 ff. - asyl.net: M27918
https://www.asyl.net/rsdb/M27918
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine junge Frau aus Afghanistan, der die Änderung der in Deutschland gewählten Lebensführung bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht zumutbar ist:

"1. Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979 (BGBl. 1985 II, S. 647) (juris: DiskrBesÜbk), ist ein einschlägiger – menschenrechtsprägender – internationaler Vertrag im Sinne von Art. 78 Abs. 1 AEUV und damit maßstabsbildend für die Auslegung des Sekundärrechts im Bereich des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Rn.25).

2. Kommt in einer gewählten Lebensführung die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung eigener Grundrechte zum Ausdruck, die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte, so ist dann, wenn der Menschenwürdekern des Grundrechts berührt ist, eine Änderung der gewählten Lebensführung zur Vermeidung drohender Verfolgung unzumutbar (im Anschluss an den Österreichischen VwGH, Erkenntnis vom 22.02.2018 - Ra 2017/18/0357). Dieser Menschenwürdekern ist insbesondere dann offenkundig berührt, wenn das in Rede stehende Vermeidungsverhalten, das der aufgrund der eigenen Identitätsprägung gewählten Lebensführung zuwiderliefe, mit dem Grundgedanken der Gleichheit von Mann und Frau nicht zu vereinbaren ist (Rn.25).

3. Wenn "weiteren Angaben" im Sinne des Art. 40 RL 2013/32/EU [VerfahrensRL zu Folgenanträgen] erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung erfolgen, dem Bundesamt dort Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem neuen Vorbringen gegeben worden ist und es keine Vertagung der mündlichen Verhandlung beantragt hat, bedarf es keiner Fristsetzung gegenüber dem Bundesamt im Sinne der Ahmedbekova-Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 04.10.2018 - C- 652/16 - Ahmedbekova - [Asylmagazin 3/2019, S. 65 ff. - asyl.net: M26632] NVwZ 2019, 541 Rn. 100), um diese weiteren Angaben im gerichtlichen Verfahren würdigen zu dürfen (Rn.53)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Verschleierung, Bekleidungsvorschriften, Bekleidung, Prozessrecht, Asylverfahrensrecht, Verwestlichung, westliche Prägung, westlicher Lebensstil, Integration, Apostasie, Flüchtlingsanerkennung, Frauenrechtskonvention, Menschenwürde, Diskretion, Gleichheitsgrundsatz, Asylfolgeantrag,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 2, AsylG § 28 Abs. 1a, RL 2013/32/EU Art. 40, AEUV Art. 78 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

16 I. Der Klägerin kommt der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. [...]

20 b) Internationalen Schutz benötigt derjenige nicht, der durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung abwenden kann (vgl. zu § 51 Abs. 1 AuslG 1990: BVerwG, Urteil vom 03.11.1992 - 9 C 21.82 -, BVerwGE 91, 150). Die Frage der Zumutbarkeit eines möglichen Vermeidungsverhaltens ist unter Heranziehung objektiver Gesichtspunkte zu beantworten (BVerwG, Beschluss vom 30.07.2012 -10 B 27.12 -, juris Rn. 6). Es ist eine einzelfallbezogene Gesamtbetrachtung der für und gegen die Zumutbarkeit streitenden objektiven Gesichtspunkte vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 19.04.2018 - 1 B 8.18 -, juris Rn. 17). Dabei sind wesentliche menschen- und grundrechtliche Wertungen zentral in den Blick zu nehmen. Erweist sich ein Verhalten als menschenrechtlich geschützt und stellte die Anforderung, es zu vermeiden, einen schwerwiegenden Eingriff in das Menschenrecht dar, so lässt sich die Zumutbarkeit der Vermeidung nicht mehr begründen (siehe zur Meinungs - freiheit etwa Hathaway/Foster, The Law of Refugee Status, 2nd Ed. 2014, S. 408). Denn die Erwartung einer Zurückhaltung oder Vermeidung des Auslebens von Menschenrechten würde im krassen Widerspruch zum menschenrechtlichen Ansatz des Flüchtlingsrechts stehen. [...]

22 Die Menschenwürde, wie sie in Art. 1 GRCh als eigenes Grundrecht (GAin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 18.03.2004 - C-36/02 - Omega -, Rn. 89 ff.) und gleichzeitig als objektiv-rechtlicher Verfassungsgrundsatz und also als "Fundament der Grundrechte" (Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 1 GRCh Rn. 3 m.w.N.) verankert ist, setzt für sich bereits absolute Grenzen dessen, was einem Asylantragsteller an Vermeidungsverhalten zugemutet werden kann. Denn sie ist unantastbar, Art. 1 Satz 1 GRCh und folglich nicht einschränkbar.

23 Die Achtung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit macht darüber hinaus auch den Kern der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten aus (EGMR, Urteil vom 29.04.2002 - 2346/02 - Pretty -, NJW 2002, 2851 Rn. 65). Die daraus abzuleitende Autonomie einer Person ist deshalb ein wichtiger Grundsatz, der dem Verständnis der Konvention und insbesondere von Art. 8 EMRK zugrunde liegt (vgl. EGMR Urteil vom 20.03.2007 - 5410/03 - Tysiąc -, NJOZ 2009, 3349 Rn. 107). Weiter ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geklärt, dass Art. 8 EMRK bei Anwendung auf die Lage transsexueller Menschen auch ein Recht zur Selbstbestimmung enthält, von dem das Recht auf Bestimmung seiner sexuellen äußeren Erscheinung eines der wesentlichsten Elemente ist (EGMR, Urteil vom 11.10.2018 - 55216/08 - S.V. / Italien -, NVwZ-RR 2019, 489 Rn. 55). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass jedes offene Bekenntnis zu den wesentlichen, die eigene Identität prägenden Umständen von dem Recht auf Selbstbestimmung als Teil des Rechts auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 EMRK umfasst ist.

24 Die Auslegung von Art. 8 EMRK und der Einfluss der Menschenwürde auf sie ist wiederum von Bedeutung für die Auslegung von Art. 7 GRCh, denn die dort garantierten Rechte entsprechen denjenigen des Art. 8 EMRK. Soweit aber die Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird, Art. 52 Abs. 3 GRCh. Daher kann auch der Menschenwürdekern, der in Art. 7 GRCh enthalten ist, dem Ansinnen, ein bestimmtes Verhalten im Herkunftsstaat zur Vermeidung von Verfolgungshandlungen zu unterlassen, entgegenstehen.

25 Ferner ist das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979 (BGBl. 1985 II, S. 647), das alle 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert haben (https:/treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-8&chapter=4&lang=en), maßgeblich in den Blick zu nehmen. Es handelt sich nämlich schon deswegen, weil alle Mitgliedstaaten Vertragspartner sind, um einen einschlägigen – menschenrechtsprägenden – internationalen Vertrag im Sinne von Art. 78 Abs. 1 AEUV. Er ist damit maßstabsbildend für die Auslegung des Sekundärrechts im Bereich des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Dessen Artikel 3 bestimmt, dass die Vertragsstaaten auf allen Gebieten insbesondere auf politischem, sozialem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet, alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung und Förderung der Frau treffen, damit gewährleistet wird, dass sie die Menschenrechte und Grundfreiheiten gleichberechtigt mit dem Mann ausüben und genießen kann. Kommt in einer gewählten Lebensführung die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung eigener Grundrechte zum Ausdruck, die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte, so ist dann, wenn der Menschenwürdekern des Grundrechts berührt ist, eine Änderung der gewählten Lebensführung unzumutbar (vgl. Österreichischer VwGH, Erkenntnis vom 22.02.2018 - Ra 2017/18/0357 -). Dieser Menschenwürdekern ist insbesondere dann offenkundig berührt, wenn das in Rede stehende Vermeidungsverhalten, das der aufgrund der eigenen Identitätsprägung gewählten Lebensführung zuwiderliefe, mit dem Grundgedanken der Gleichheit von Mann und Frau nicht zu vereinbaren ist.

26 2. Gemessen hieran ist die Klägerin Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG. Denn für den Fall, dass sie nach Afghanistan zurückkehrte, drohte ihr für den Fall, dass sie sich beim Auftreten in der Öffentlichkeit nicht verschleiern sollte, landesweite Verfolgung aufgrund einer ihr zugeschriebenen religiösen Überzeugung. Da die Klägerin die dauerhafte Verschleierung ihres Gesichts in der Öffentlichkeit aus einer tiefen, inneren Überzeugung ablehnt, weil sie diese nicht mit ihrer persönlichen Identität vereinbaren kann, darf sie ihr auch nicht zur Vermeidung dieser Verfolgungshandlungen angesonnen werden (a)). Auf die rechtliche Bedeutung der weiter vorgetragenen, persönlichen Bedrohung kommt es daher nicht an (b).

27 a) Der Klägerin drohen, wenn sie sich nicht an die sozialen Kleidungs- und Verhaltensnormen für Frauen in Afghanistan hält, im Falle ihrer Rückkehr Verfolgungshandlungen (aa) aufgrund flüchtlingsrechtlich relevanter Gründe (bb), ohne dass ihr ein Verhalten zur Vermeidung der drohenden Verfolgung zumutbar wäre (cc). Dabei ist es nicht entscheidungserheblich, dass sich die Klägerin auf diese Umstände erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung berufen hat (gg).

28 aa) (1) Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen werden (Lagebericht des AA vom 02.09.2019 S.31). In dem Gutachten von Stahlmann für das Verwaltungsgericht Wiesbaden vom 28.03.2018 heißt es in diesem Zusammenhang insbesondere: 29 "Der implizite Verdacht, dem alle Rückkehrer unterliegen, ist, dass sie sich europäischer Kultur und Lebensweisen angepasst haben. [...]

32 Verwestlichung kann aufgrund der oft religiös legitimierten Alltagskultur, auch zu einem religiös-rechtlichen Problem werden, womit auch aus dem familiären und erweiterten sozialen Umfeld die Gefahr der Verfolgung droht. [...]

33 Um die Annahme der Apostasie, des Abfalls vom Glauben, zu etablieren reicht nach weithin geteilten gesellschaftlichen Maßstäben somit der Aufenthalt in Europa und die moralischen und religiösen Zweifel, die durch eine erwartete Anpassung in der Alltagskultur geweckt werden. [...]

37 Der UNHCR führt zu "verwestlichten" Personen aus, dass es Berichte über Bedrohungen, Folterungen und getöteten Rückkehrern aus westlichen Ländern gebe, wobei diese durch regierungsfeindliche Kräfte erfolgt seien, weil angenommen worden sei, dass die Rückkehrer Werte, die mit diesen westlichen Ländern in Verbindung gebracht würden, übernommen hätten, dass sie Ausländer geworden seien oder dass sie Spione oder Unterstützer des jeweiligen westlichen Landes geworden seien (UNHCR, Eligibility Guidelines August 2018, S. 46 f.). [...]

39 Dokumentierte Fälle von Afghanen, die wegen einer Verwestlichung nach einem Aufenthalt in Europa gezielt angegriffen werden, gibt es nur wenige. Die Quellen beschreiben "gelegentliche Berichte über behauptete Entführungen und Überfälle, dass nicht jeder bedroht sei, wenngleich es schon zu solchen Übergriffen komme, auch wenn das Ausmaß schwer zu quantifizieren sei oder dass die Überfälle nicht gerade wegen der Reise in westliche Länder aufträten" (EASO, Country of Origin – Information Report, Afghanistan, Individuals targeted under societal and legal norms, Dezember 2017, S. 92). Dies deckt sich mit der jüngsten Aussage des Auswärtigen Amtes, wonach dem Auswärtigen Amt keine Fälle bekannt seien, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (Lagebericht des AA vom 02.09.2019, S. 31). [...]

41 (2) Das sich aus den oben benannten, unterschiedlichen Quellen ergebende Lagebild stellt sich somit zur Überzeugung der Kammer insbesondere so dar, dass Rückkehrerinnen aus dem europäischen Ausland von der afghanischen Mehrheitsbevölkerung vollständig misstrauisch betrachtet werden, dass das Risiko, Angriffen wegen einer tatsächlichen oder angenommenen, abweichenden Verhaltensweise ausgesetzt zu sein, von der Fähigkeit der Einzelnen, sich zurückzunehmen und sich in der erwarteten Weise zu verhalten, erheblich abhängt, und dass ein Aufenthalt in Europa bei nicht nur unerheblichen Teilen der afghanischen Gesellschaft moralische und religiöse Zweifel weckt, die durch eine von ihnen gemutmaßte Anpassung an die europäische Alltagskultur genährt werden, so dass die Annahme eines Glaubensabfalls nahe liegt. Dabei ist es für die Kammer bei der Risikobewertung unerheblich, dass nur Einzelfälle von gewalttätigen Übergriffen gegen Rückkehrer bekannt sind. Denn in den Fällen, in denen das Risiko des Übergriffs wegen eines zugeschriebenen Glaubensabfalls durch ein klar nach außen tretendes Merkmal – wie etwa Körperschmuck oder offen getragene Haare – erhöht werden könnte, ist zu berücksichtigten, dass angesichts der möglichen schwerwiegenden Folgen solcher Übergriffe die meisten Rückkehrer es naturgemäß zu vermeiden suchen, solche Merkmale nach außen zu tragen, was flüchtlingsrechtlich aber im Einzelfall für die Gefahrenprognose sowohl beachtlich als auch unbeachtlich sein kann (dazu oben unter I. 1. b) und – für den konkreten Fall – unten unter I. 2. a) cc)). Es ist mit anderen Worten auch der Vorsicht und der Anpassung der zurückkehrenden Personen, die eigentlich ein anderes Auftreten in der Öffentlichkeit bevorzugten, geschuldet, dass die Anzahl der Übergriffe gering bleibt.

42 (3) Gemessen daran befindet sich die Klägerin aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb ihres Herkunftslandes. Ihr droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr.

43 Die Klägerin ist nach der vollen Überzeugung der Kammer in den Jahren ihres Aufenthalts zutiefst von den freiheitlichen Werten der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland geprägt worden. Sie hat sich in der mündlichen Verhandlung in überzeugender Weise als selbstbewusste, junge Frau präsentiert. Sie verfügt über ein Nasenpiercing und hat ihre Haare offen, ohne Kopftuch, getragen. Ihre freundliche aber direkte Art, sichtbar aber auch mündlich auf Nachfrage für Werte einzutreten, die mit dem afghanischen Gesellschaftssystem und dem rigiden Religionsverständnis dort unvereinbar sind – nämlich das Leben als Frau so führen zu wollen, wie sie es für richtig empfinde und offen gegenüber verschiedenen religiösen Überzeugungen und deren Ausleben zu sein – lässt erwarten, dass bei wertender Betrachtung mehr Gründe dafür als dagegen sprechen, dass sie im Falle ihrer Rückkehr mit gewalttätigen Übergriffen mit potentiell erheblichen Folgen für Leib und Leben (siehe § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) gegen sie durch konservative, männliche Kreise zu gewärtigen haben wird, dass also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Klägerin wesentliche Jahre ihres Reifeprozesses hin von einer Jugendlichen zu einer erwachsenen Frau in Deutschland er- und durchlebt hat und damit die Erwartungen der Mehrheit der afghanischen Gesellschaft an das Verhalten einer jungen Frau in der Öffentlichkeit nicht durch eigene, auf Erlebnissen beruhende Erfahrung erlernen hat können, zumal sie seit Anfang 2014 auch von ihren Eltern getrennt lebt. Diese konnten ihr die erforderlichen Kenntnisse nicht unmittelbar vermitteln. Daher fehlt es ihr an der erforderlichen Kenntnis, in jedem Einzelfall zu erkennen, was zu sagen oder zu tun in der gesellschaftlichen Umgebung unangemessen ist. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der erkennbar hohen Intelligenz der Klägerin, da es hier auch auf eingeübte Verhaltensmuster ankommt, die sich nur einüben lassen. [...]

45 bb) Die Verfolgungshandlungen in Form von physischer Gewalt drohen der Klägerin ausgehend von den ausgewerteten Erkenntnismitteln wegen ihr zugeschriebener religiöser Merkmale (§§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AsylG). Denn die konservativ-religiösen Kreise der afghanischen Gesellschaft werden der Klägerin – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit – unterstellen, vom einzig rechten islamischen Glauben abgefallen zu sein, wenn sie regelmäßig in der Öffentlichkeit mit einem Nasenpiercing und ohne Kopftuch auftreten sollte. [...]

46 cc) Der Klägerin ist es aufgrund der Ausprägung ihrer Persönlichkeit nach den obigen Maßstäben nicht zuzumuten, sich durch das Verhüllen ihres Gesichts den Mutmaßungen der Mehrheitsgesellschaft und damit der drohenden Verfolgung in Afghanistan zu entziehen, so dass ihrer Einlassung, sie würde sich den Kleidervorschriften fügen, müsste sie zurückkehren, insoweit keine Entscheidungsrelevanz zukommt. Denn die erforderliche einzelfallbezogene Gesamtbetrachtung der für und gegen die Zumutbarkeit eines Vermeidungsverhaltens streitenden objektiven Gesichtspunkte ergibt im Fall der Klägerin, dass ihr das erforderliche Vermeidungsverhalten nicht zugemutet werden kann. [...]

48 (2) Der Zwang für eine Frau, ihr Gesicht und damit ihre nach außen erkennbare Persönlichkeit in der Öffentlichkeit zu verhüllen, berührt den Kern ihres Rechts auf Wahrung ihrer Autonomie als Person und also ihre Würde als Mensch jedenfalls dann, wenn der Wunsch, sich nicht entsprechend zu kleiden, auf einer eigenen, gefestigten Überzeugung beruht und diese Überzeugung ein wesentlicher Teil der eigenen Identität ist. Damit steht nach den obigen Maßstäben Art. 7 GRCh iVm. Art. 1 GRCh jedem Ansinnen entgegen, in einem solchen Fall zum Zwecke der Vermeidung drohender Verfolgungshandlungen sich entgegen eigener, identitätsprägender Überzeugungen kleiden zu müssen. Der Klägerin ist daher die Vermeidung zukünftiger Verfolgungshandlungen durch Tragen einer Gesichtsverhüllung nicht zumutbar. Das gleiche Ergebnis ergibt sich auch unter Berücksichtigung des insoweit maßstabsbildenden Art. 3 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Denn es stünde dem Gedanken der Sicherung der vollen Entfaltung und Förderung der Frau diametral entgegen, wenn es einer Frau entgegen ihrer gefestigten, ihre Identität mitprägenden Überzeugung abverlangt würde, ihr Gesicht und ihren Kopf zu verhüllen und somit mit anderen Menschen auf der Straße nur bedingt in Interaktion treten zu können, während diese Möglichkeit Männern offensteht. [...]

52 gg) Ebenso ist es verfahrensrechtlich im Ergebnis nicht relevant, dass sich die Klägerin erst im Termin zur mündlichen Verhandlung auf ihre persönliche Überzeugung von der von ihr bevorzugten Lebensführung berufen hat, ohne dass sie dies zu irgendeinem Zeitpunkt während des Verwaltungsverfahrens oder des gerichtlichen Verfahrens dem Bundesamt oder dem Verwaltungsgericht mitgeteilt hätte.

53 (1) Im Ausgangspunkt ist allerdings festzustellen, dass aus der Verpflichtung des Gerichts, auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG; siehe dazu auch Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU), nicht hervorgeht, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt, ohne sich einer weiteren Prüfung durch die Asylbehörde auszusetzen, den Grund für ihren Antrag und damit die Konturen des jeweiligen Falles ändern könnte, indem sie im Rechtsbehelfsverfahren einen Grund für internationalen Schutz anführt, der vor der Asylbehörde nicht erwähnt wurde, obwohl er Ereignisse oder Bedrohungen betrifft, die vor Erlass der Entscheidung dieser Behörde oder sogar vor Antragstellung stattgefunden haben sollen (EuGH, Urteil vom 04.10.2018 - C-652/16 - Ahmedbekova -, NVwZ 2019, 541 Rn. 94). Es ist außerdem zu beachten, dass die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz durch das Bundesamt, als mit besonderen Mitteln und Fachpersonal ausgestattete Verwaltungsbehörde, eine wesentliche Phase der mit der Richtlinie 2013/32/EU eingeführten gemeinsamen Verfahren ist und dass das dem Antragsteller durch Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU dieser Richtlinie zuerkannte Recht auf eine umfassende Ex-nunc-Prüfung vor einem Gericht nicht dahin ausgelegt werden kann, dass es zu einer Lockerung der Pflicht des Antragstellers zur Zusammenarbeit mit der Asylbehörde führt (EuGH, Urteil vom 04.10.2018 - C-652/16 - Ahmedbekova -, NVwZ 2019, 541 Rn. 96). Bezieht sich der Kläger nun erstmals vor Gericht auf einen Grund für die Gewährung internationalen Schutzes, obwohl dieser Grund schon während des Behördenverfahrens bestanden hat, so ist dieser Grund als "weitere Angabe" im Sinne von Art. 40 Abs. 1 RL 2013/32/EU einzustufen. Wie aus dieser Vorschrift hervorgeht, führt eine solche Einstufung dazu, dass das mit dem Rechtsbehelf befasste Gericht diesen Grund im Rahmen der Prüfung der Entscheidung, gegen die der Rechtsbehelf eingelegt wurde, prüfen muss, jedoch unter der Voraussetzung, dass alle "zuständigen Behörden", zu denen nicht nur dieses Gericht, sondern auch die Asylbehörde gehört, die Möglichkeit haben, die weitere Angabe in diesem Rahmen zu prüfen. Um zu klären, ob das Gericht die weitere Angabe im Rahmen des Rechtsbehelfs prüfen kann, obliegt es ihm, nach den Verfahrensvorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung und des Asylgesetzes zu prüfen, ob der erstmals vor ihm vorgetragene Grund für internationalen Schutz in einer nicht zu späten Phase des Rechtsbehelfsverfahrens und hinreichend konkret vorgetragen worden ist, um ordnungsgemäß geprüft werden zu können. (vgl. EuGH, Urteil vom 04.10.2018 - C-652/16 - Ahmedbekova -, NVwZ 2019, 541 Rn. 98 f.). Sofern diese Prüfung ergibt, dass das Gericht die Möglichkeit hat, diesen Grund in seine Beurteilung des Rechtsbehelfs einzubeziehen, hat es die Asylbehörde innerhalb einer Frist, die dem mit der Richtlinie 2013/32/EU verfolgten Ziel der Beschleunigung genügt (vgl. insoweit EuGH, Urteil vom 25.07 2018 - C-585/16 - Alheto -, juris Rn. 109), um eine Prüfung dieses Grundes zu ersuchen, deren Ergebnis und Begründung dem Antragsteller und dem Gericht mitzuteilen sind, bevor das Gericht den Antragsteller anhört und den Fall würdigt (EuGH, Urteil vom 04.10.2018 - C-652/16 - Ahmedbekova -, NVwZ 2019, 541 Rn. 100). Eine solche Fristsetzung ist indes dann entbehrlich, wenn die "weiteren Angaben" im Sinne des Art. 40 RL 2013/32/EU erst im Termin zur mündlichen Verhandlung erfolgen, dem Bundesamt dort Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem neuen Vorbringen gegeben worden ist und es keine Vertagung der mündlichen Verhandlung beantragt hat. Anderes würde dem im 18. Erwägungsgrund RL 2013/32/EU verankerten Beschleunigungsgebot zuwiderlaufen.

54 (2) Selbst wenn die Identitätsprägung der Klägerin noch vor Zustellung des ablehnenden Bescheids am 06.03.2017 abgeschlossen gewesen sein sollte und sie daher gehalten gewesen wäre, diese im Verwaltungsverfahren als Verfolgungsgrund geltend zu machen, konnte und musste die Kammer nach diesen Maßstäben das neue Vorbringen berücksichtigen, nachdem das Bundesamt die Umstände in der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis nehmen konnte. Dies gilt überdies deswegen, weil die Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung erläuterte, dass ein Einstellungswandel sowie eine so genannte "Verwestlichung" rechtlich für Fragen des internationalen Schutzes nicht relevant seien und somit eine weitergehende Prüfung durch das Bundesamt zu keinem abweichenden Ergebnis hätte führen können. [...]