VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 20.11.2019 - 28 K 712.17 A - asyl.net: M27936
https://www.asyl.net/rsdb/M27936
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Person aus Äthiopien:

1. In Äthiopien wurden seit April 2018 durch Ministerpräsident Abiy Ahmed politische Reformen eingeleitet, die unter anderem darauf abzielen, die Verfolgung von oppositionellen Gruppen wie der Ogaden National Liberation Front (ONLF) zu beenden. Dennoch bleibt die Sicherheitslage im Land und insbesondere der Somali-Region, auch Ogaden genannt, instabil.

2. Die Kehrtwende auf politischer Ebene vermag demnach nicht die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zu widerlegen, dass eine Person, die vor ihrer Flucht aufgrund ihrer vermeintlichen Nähe zur ONLF schwere Menschenrechtsverletzungen erlitten hat, bei einer Rückkehr erneut von Übergriffen bedroht wäre.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, Somali, Somali-Region, Ogaden, ONLF, Ogaden National Liberation Front, Vorverfolgung,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

1. Der Bescheid des Bundesamtes vom 8. September 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Denn dem vorverfolgt ausgereisten Kläger droht in Äthiopien unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 des Asylgesetzes [AsylG) eine flüchtlingsrelevante Verfolgung nach § 3 ff. AsylG. [...]

Der Kläger ist i.S.d. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU vorverfolgt ausgereist, so dass die tatsächliche Vermutung dafür besteht, dass sich derartige Bedrohungen auch bei seiner Rückkehr nach Äthiopien wiederholen werden (dazu aa)). Diese Vermutung wird nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt (dazu bb)).

aa) Die Kammer ist aufgrund der überzeugungskräftigen Schilderungen des Klägers in seiner persönlichen Anhörung davon überzeugt, dass er in Äthiopien bei seiner Verhaftung im Dezember 2014 und während seiner sich daran anschließenden Inhaftierung Opfer schwerwiegender Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG geworden ist. [...]

bb) Die auf Grund der Vorverfolgung bestehende tatsächliche Vermutung wird nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt. Hierzu hat die Kammer im Urteil vom 27. August 2019 (VG 28 K 407.17 A, Abdruck Seite 16ff.; vorgesehen für juris) ausgeführt: "Trotz des seit April 2018 durch Ministerpräsident Abiy Ahmed eingeleiteten politischen Umbruchs in Äthiopien lassen sich den in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnissen nach Auffassung der Kammer keine stichhaltigen Gründe entnehmen, die gegen eine erneute Verfolgung des Klägers in der Korahe-Zone - seiner Herkunftsregion - sprechen. [...]

Äthiopien befindet sich zwar seit dem Amtsantritt des Premierministers Abiy Ahmed am 2. April 2018 in einem rasanten politischen Wandel. Er ist der erste Oromo im Amt des Premierministers (AI, Stellungnahme vom 11. Juli 2018 zum Beweisbeschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, S. 1), der größten ethnischen Gruppe Äthiopiens, die sich jahrzehntelang gegen wirtschaftliche, kulturelle und politische Marginalisierung wehrte (SFH, Äthiopien: Exilpolitische Aktivitäten, staatliche Überwachung, neuere Entwicklungen, Auskunft der SFH-Länderanalyse, 26. September 2018, S. 5). Premierminister Abiy Ahmed hat eine Kehrtwende weg von der repressiven Politik seiner Vorgänger vorgenommen und u.a. die Praxis der Kriminalisierung von Oppositionellen und kritischen Medien beendet (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien, 2019, S. 6; BFA, Länderinformationsblatt, 2019, S. 5). [...]

Trotz der angestoßenen und bereits realisierten Reformen liegen unter Berücksichtigung der eingeführten Erkenntnisse keine stichhaltigen Gründe dafür vor, dass der vorverfolgt ausgereiste Kläger aufgrund der ihm seitens des Militärs zugerechneten Unterstützung der ONLF im Falle seiner Rückkehr in seine Herkunftsregion keiner erneuten Verfolgung durch lokale Sicherheitskräfte oder durch die dem Staat zugehörige Liyu-Polizei ausgesetzt sein wird. Denn bei qualifizierender Würdigung der eingeführten Erkenntnisse erweist sich die Sicherheits- und Verfolgungslage in der Herkunftsregion des Klägers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit noch als derart volatil, dass die Umstände, welche für eine Verfolgungssicherheit des Klägers sprechen, die nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU anzunehmende tatsächliche Vermutung einer erneuten Verfolgung, nicht überwiegen. Jedenfalls wird die hier anzunehmende Vermutung nicht derart erschüttert, dass sich die o.g. Veränderung im Ergebnis als stichhaltig erweist, um die vermutete Verfolgung zu entkräften. Dies beruht auf den folgenden eingeführten Erkenntnissen:

Die schnellen und vor allem personellen Veränderungen seit April 2018 haben sowohl auf Bundesebene als auch in den Regionalstaaten zu einem Kontrollverlust der Regierung geführt (SEM, Focus Äthiopien, 2019, S. 29, 33). Auf Bundesebene ist durch die eingreifenden personellen Änderungen viel Fachwissen verloren gegangen. Auch die Armee und der Geheimdienst sind von personellen Änderungen betroffen. Der Kontrollverlust hat auch diese zwei Stützen der Staatsmacht erreicht, so dass es im Oktober 2018 wohl zu einem Putschversuch gekommen ist (SEM, Focus Äthiopien, 2019, S. 29). Zuvor war es bereits im Juni 2018 im Zuge des ersten öffentlichen Auftrittes von Abiy Ahmed in Addis Abeba zu einem Attentat mit einer Handgranate gekommen. Bei dieser Explosion sind mehrere Menschen getötet und weitere verletzt worden. Beobachter gehen davon aus, dass der Anschlag mit Abiy Ahmeds Reformpolitik zusammenhängt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Äthiopien, 16. Januar 2017, Aktualisierung: 23. August 2018, S. 6 f.).

Unklare Machtverhältnisse führen auch in vielen ländlichen Regionen zu einem Autoritätsverlust der lokalen Verwaltung und Sicherheitskräfte (SEM, Focus Äthiopien, 2019, S. 29).

In der Herkunftsregion des Klägers (Somali) ist die Sicherheitslage besonders volatil. Spätestens seit September 2018 ereignen sich in zahlreichen kleineren Städten der Somali-Region Unruhen infolge von Neubesetzungen in den lokalen politischen Führungspositionen. Dabei geht es häufig um eine Neuaushandlung von Machtverhältnissen zwischen Sub-Clans. Die Konflikte zwischen lokalen Oromo- und Somali-Clans in der Grenzregion dauern an und fordern nach wie vor wöchentlich Todesopfer (SEM, Focus Äthiopien, 2019, S. 24; vgl. auch AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien, 2019, S. 7). Es kommt zu Gefechten zwischen der äthiopischen Armee und verschiedenen Rebellengruppen sowie bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Armee und der lokalen Miliz (BFA, Länderinformationsblatt, 2019, S. 9 f.). Weder die Zentralregierung noch lokale Behörden sind in allen Regionen in der Lage, Menschenrechte und demokratische Rechte permanent zu gewährleisten (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien, 2019, S. 17). Es wird von rund 1 Million Binnenflüchtlinge infolge der lokalen Unruhen in Äthiopien berichtet (SFH, Äthiopien: Exilpolitische Aktivitäten, 2018, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt, 2019, S. 32). [...]

Inwieweit die für Folter und willkürliche Verhaftungen verantwortliche Liyu-Polizei in der Somali-Region personell erneuert bzw. entmachtet wurde, lässt sich den derzeitigen Erkenntnissen nicht entnehmen. Im Gegenteil wurde im August 2018 von Angriffen der paramilitärischen Liyu-Polizei auf Zivilisten berichtet, bei denen mehrere Menschen ums Leben kamen. Weitere 41 Personen sollen nur wenige Tage zuvor von der Liyu-Polizei getötet worden sein (SFH, Äthiopien: Exilpolitische Aktivitäten, 2018, S. 6). Auch in anderen Regionen Äthiopiens griff die Liyu-Polizei während Unruhen Einzelpersonen an (SEM, Focus Äthiopien, 2019, S. 31). [...]" [...]