LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.05.2019 - L 20 AY 15/19 B ER - asyl.net: M27938
https://www.asyl.net/rsdb/M27938
Leitsatz:

Bewilligung von Sozialhilfeleistungen für geduldete EU-Staatsangehörige ohne Aufenthaltsrecht:

1. Das AsylbLG ist auf EU-Staatsangehörige nicht anwendbar.

2. EU-Staatsangehörige, denen nach Entzug des Freizügigkeitsrechts eine Duldung aus humanitären Gründen (hier schwere psychische und körperliche Erkrankungen, Orientierungs- und Hilflosigkeit) erteilt wurde, haben antragsunabhängig Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsbürger, Verlust des Freizügigkeitsrechts, humanitäre Gründe, Duldung, Krankheit, psychische Erkrankung, Sozialleistungen, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, SGB XII, Drittstaatsangehörige,
Normen: AsylbLG § 1 Abs. 1, SGB XII §23 Abs. 6 S. 6, FreizügG/Eu § 6, AufenthG § 60a,
Auszüge:

[...]

1. Die mit dem erstinstanzlichen Antrag (einzig) ausdrücklich geltend gemachten Leistungen nach § 2 AsylbLG kann der Antragsteller nicht beanspruchen.

a) Dem Antragsteller ist zwar zuzugeben, dass allein in Ansehung des Wortlauts des § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG ein Ausländer, der (wie der Antragsteller) eine Duldung nach § 60a AufenthG besitzt, als leistungsberechtigt nach dem AsylbLG erscheint.

b) Gleichwohl ist das AsylbLG auf EU-Ausländer von vornherein nicht anwendbar. "Ausländer" i.S.d. § 1 Abs. 1 AsylbLG kann vielmehr nur ein Drittstaatsangehöriger sein, nicht aber ein Ausländer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union ist.

aa) Der Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 AsylbLG ist insoweit teleologisch dahin zu reduzieren, dass EU-Ausländer nicht von der Norm erfasst sind (vgl. jurisPK-Frerichs, § 1 AsylbLG Rn. 43; a.A. Cantzler, Asylbewerberleistungsgesetz, 2019, § 1 Rn. 34). EU-Ausländer können deshalb auch von vornherein nicht leistungsberechtigt nach dem AsylbLG sein.

Denn das AsylbLG ist ein restriktives Sondergesetz für Drittstaatsangehörige, die sich auf politische, humanitäre oder völkerrechtliche Aufenthaltsgründe berufen können, und ist insoweit eng mit den ausländerrechtlichen Bestimmungen (AsylG, AufenthG) verknüpft (Frerichs, a.a.O. Rn. 13). Ab seinem Inkrafttreten am 01.11.1993 regelte es einen Mindestunterhalt für Asylbewerber sowie bestimmte andere ausländische Staatsangehörige; es war von Anfang an ein Gesetz, das außerhalb des für Deutsche und diesen gleichgestellte ausländische Staatsangehörige ein eigenes Leistungsregime zur Verfügung stellen sollte (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 und 2/11 Rn. 2). Zwar findet es nach zwischenzeitlichen Gesetzesänderungen als Sonderregelung außerhalb des Sozialhilferechts nicht nur Anwendung auf Asylsuchende, sondern auch auf die weiteren in § 1 Abs. 1 AsylbLG benannten Personenkreise (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn. 4-7). Gleichwohl wendet es sich ausweislich seiner Entstehungsgeschichte und des Gesamtzusammenhanges der einschlägigen Regelungen von vornherein nicht an Unionsbürger; bei Letzteren sind die rechtlichen Regelungen nicht allein allgemein-ausländerrechtlich, sondern weitgehend europarechtlich geprägt (Frerichs, a.a.O. Rn. 43).

bb) Dies gilt entgegen der Ansicht des Antragstellers auch dann, wenn - wie bei ihm - im Einzelfall der Verlust des Rechts auf Einreise und Freizügigkeit nach § 6 FreizügG/EU festgestellt wurde. Denn diese Verlustfeststellung findet gleichwohl im Rahmen der primär europarechtlich geprägten Rechtsverhältnisse von EU-Ausländern statt, auch wenn anschließend Normen etwa des AufenthG ein weiteres Vorgehen bestimmen mögen. Vor wie nach einer Verlustfeststellung steht der typische Lebenssachverhalt eines EU-Ausländers in keinem Zusammenhang mit den Sachverhalten, die der Gesetzgeber typisierend mit dem AsylbLG regeln wollte. [...]

2. Scheiden die vom Antragsteller zunächst einzig ausdrücklich begehrten Leistungen nach dem AsylbLG nach allem von vornherein aus, so hat der Senat gleichwohl zu prüfen, ob Leistungen nach einem anderen das Existenzminimum sichernden Leistungsregime (namentlich dem SGB II oder dem SGB XII) zu gewähren sind.

Denn es ist (sofern nicht im Einzelfall Anhaltspunkte anderes nahelegen) regelmäßig davon auszugehen, dass ein Rechtssuchender alles begehrt, was das Recht für ihn an Leistungen vorsieht (sog. Meistbegünstigungsprinzip). Der Grundsatz, dass im Zweifel von einem umfassenden Rechtsschutzbegehren ausgegangen werden muss, ist Ausfluss des verfassungsrechtlichen Auftrags der Gerichte zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die Auslegung von Anträgen richtet sich danach, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen; im Zweifel ist anzunehmen, dass der Kläger bzw. Antragsteller alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (vgl. nur BSG, Beschluss vom 01.03.2018 - B 8 SO 52/17 B Rn. 6 m.w.N. der Rspr. des BSG).

Ohnehin hatte im vorliegenden Fall der Antragsteller bereits mit der Antragsschrift im erstinstanzlichen Verfahren trotz seines auf Leistungen nach dem AsylbLG formulierten Antrags darauf verwiesen, dass ihm in Ansehung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedenfalls Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII zustünden.

3. Bei summarischer Prüfung scheidet allerdings ein Anspruch des Antragstellers auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II aus. Denn angesichts seiner erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen (keine sichere Orientierung zu Ort und Zeit, quasi-dementielle Erkrankung, leichte Halbseitensymptomatik mit Gangunsicherheit, Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, Alkoholismus) geht der Senat davon aus, dass er nicht erwerbsfähig i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB II ist. Auf die weitere Frage, ob sich der bestandskräftige Ablehnungsbescheid des Jobcenters der Antragsgegnerin vom 24.01.2018 auf einen (nach § 37 SGB II antragsabhängigen) Leistungsanspruch nach dem SGB II für den hier streitigen Zeitraum auswirken kann, kommt es deshalb nicht an.

4. Der Antragsteller hat jedoch Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII, und zwar in Höhe von Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII sowie der Hilfe bei Krankheit nach dem SGB XII.

a) Dem steht nicht etwa von vornherein entgegen, dass Leistungen nach dem SGB XII durch bestandskräftigen Bescheid der Antragsgegnerin vom 09.05.2018 abgelehnt worden sind.

Zum einen sind Einzelfallleistungen nach 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII - anders als die Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (§ 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) - nicht antragsabhängig, sondern zu erbringen, sobald der Sozialhilfeträger Kenntnis von der entsprechenden Bedarfslage hat (§ 18 Abs. 1 SGB XII). Der Antragsgegnerin war jedoch die Lebenssituation des Antragstellers auch im Anschluss an die Ablehnung von Leistungen nach dem SGB XII bekannt. Zwar war ihr auch bekannt, dass dieser trotz rechtlicher Betreuung die Leistungsablehnung nach dem SGB XII durch den Bescheid vom 09.05.2018 hat bestandskräftig werden lassen. Ob Letzteres die Kenntnis der Antragsgegnerin vom Bedarf an existenzsichernden Leistungen zunächst entfallen ließ, kann der Senat jedoch offenlassen. Denn zum einen hat der Antragsteller mit Schreiben vom 05.04.2019 erneut Leistungen nach dem SGB XII beantragt und damit der Antragsgegnerin ausdrücklich (erneut kenntnisverschaffend) mitgeteilt, dass er von einer Bedarfslage nach dem SGB XII ausgeht. Zum anderen hat er bereits mit seinem Antrag vom 26.10.2018 auf Leistungen nach dem AsylbLG gegenüber der Antragsgegnerin deutlich gemacht, dass er Leistungen zur Sicherung seines Existenzminimums begehrt; nach dem Meistbegünstigungsprinzip (s.o. 2.) erfasst dieses Begehren auch Leistungen nach dem SGB XII, sofern entsprechende Leistungen nach dem AsylbLG nicht möglich sind.

b) aa) Der Antragsteller unterfällt allerdings, da er in Deutschland kein Aufenthaltsrecht (mehr) hat, grundsätzlich dem Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 SGB XII. Die Vorschrift sieht vor, dass solche Ausländer keine Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII (Sozialhilfe für Ausländer) oder nach dem Vierten Kapitel des SGB XII erhalten. Hilfebedürftigen Ausländern, die unter diesen Leistungsausschluss fallen, werden nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII vielmehr bis zur Ausreise, längstens jedoch für den Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte (im Umfang in § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB XII näher umschriebene) Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen). Steht aber für den Antragsteller eine Ausreise nicht an, so entsprechen maximal einmonatige Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII jedenfalls nicht seinem Antragsziel.

bb) Trotz dieses grundsätzlichen Leistungsausschlusses sind jedoch existenzsichernde Sozialhilfeleistungen jedenfalls dann möglich, wenn - wie beim Antragsteller - die besonderen Umstände des Einzelfalles zum einen den Verweis auf eine Ausreisemöglichkeit nicht zulassen und zum anderen das menschenwürdige Existenzminimum nicht sichergestellt ist:

Denn nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII (in der seit dem 29.12.2016 geltenden Fassung) werden Leistungsberechtigten nach § 23 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. Satz 1 SGB XII (d.h. u.a. Ausländern ohne Aufenthaltsrecht) zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen i.S.v. Absatz 1 der Vorschrift (u.a. Sozialhilfe, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist; vgl. Abs. 1 Satz 3) gewährt; ebenso sind Leistungen (abweichend von Abs. 3 Satz 3) über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist.

Beim Antragsteller besteht eine solche besondere Härte, und die Besonderheiten seines Einzelfalles lassen zudem eine Leistungserbringung über einen längeren Zeitraum hinaus geboten erscheinen. [...]