Eilrechtsschutz gegen drohende Abschiebung, bis Ausländerbehörde über das Vorliegen eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbots entschieden hat:
"1. Beruft sich der Ausländer erstmals im gerichtlichen Verfahren auf das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG, können die Verwaltungsgerichte ohne Beiladung des Bundesamts direkt über das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG entscheiden.
2. Kommt es hierfür maßgeblich auf die Verhältnisse im Zielstaat an und bedarf es hierzu weiterer Sachaufklärung, ist in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Abschiebung des Ausländers bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde auszusetzen, die nach § 72 Abs. 2 AufenthG vor ihrer Entscheidung das Bundesamt anzuhören hat."
(Amtliche Leitsätze)
31 3. Die Abschiebung des Antragstellers nach Algerien ist der Antragsgegnerin jedoch vorläufig zu untersagen, da über das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG zunächst die Ausländerbehörde unter Beteiligung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zu entscheiden hat. [...]
33 Beim Antragsteller wurde eine schwerwiegende Krankheit i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG diagnostiziert. Dabei kann hier dahinstehen, ob der Antragsteller tatsächlich an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt ist. Jedenfalls wurde bei ihm fachärztlich eine Polytoxikomanie (ICD-10-Nr. F19.2) sowie eine drogeninduzierte Psychose (ICD-10-Nr. F19.5) diagnostiziert. Hierbei handelt es sich um schwerwiegende Erkrankungen (vgl. zu einer hebephrenen Psychose: BVerwG, Urt. v. 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, juris). Nach der forensisch-psychiatrischen Stellungnahme vom 29. April 2019 bedarf er zur Überwindung seiner Abhängigkeit und Psychose einer Langzeitentwöhnungsbehandlung und einer strikten (vorrangig neuroleptischen) medikamentösen Behandlung. Leidet ein Ausländer an einer solchen schwerwiegenden Krankheit und zeigt er sich - wie der Antragsteller seit März 2019 - therapiewillig, darf er nicht in einen Zielstaat abgeschoben werden, in dem eine erfolgversprechende Behandlung nicht gesichert ist.
34 Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 AsylG ist das Bundesamt nach Maßgabe des Asylgesetzes auch für ausländerrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen zuständig. So obliegt dem Bundesamt nach § 24 Abs. 2 AsylG nach Stellung eines Asylantrags unter anderem auch die Entscheidung, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Hat der Ausländer hingegen keinen Asylantrag gestellt, verbleibt es bei der Zuständigkeit der Ausländerbehörde nach Maßgabe des § 72 Abs. 2 AufenthG. Danach entscheidet die Ausländerbehörde über das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG und das Vorliegen eines Ausschlusstatbestandes nach § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 bis 4 AufenthG nur nach vorheriger Beteiligung des Bundesamtes. [...]
36 Beruft sich der Ausländer erstmals im gerichtlichen Verfahren auf das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG, können die Verwaltungsgerichte daher ohne Beiladung des Bundesamtes direkt über das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG entscheiden. Kommt es hierfür jedoch maßgeblich auf die Verhältnisse im Zielstaat an und bedarf es hierzu weiterer Sachaufklärung, ist in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Abschiebung des Ausländers bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde auszusetzen, die nach § 72 Abs. 2 AufenthG vor ihrer Entscheidung das Bundesamt anzuhören hat. Die zur weiteren Sachaufklärung erforderliche Beweisaufnahme in das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu verlagern, widerspräche dessen summarischen Charakter. Dies rechtfertigt es in solchen Fällen, der Ausländerbehörde die Abschiebung des Ausländers im Wege einer einstweiligen Anordnung bis zu einer Entscheidung über das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorläufig zu untersagen.
37 Die aktuelle Auskunftslage lässt eine tragfähige, von § 60 Abs. 7 AufenthG vorausgesetzte Gefahrenprognose nicht zu. Hierzu bedarf es einer weiteren Aufklärung. Ob die nach der forensisch-psychiatrischen Stellungnahme vom 29. April 2019 des Antragstellers erforderliche Behandlung zur Genesung von der Polytoxikomanie (ICD-10-Nr. F19.2) sowie von der drogeninduzierten Psychose (ICD-10-Nr. F19.5), nämlich eine Langzeitentwöhnung bei strikter Verabreichung von vorrangig neuroleptischen Medikamenten, in Algerien möglich ist, lässt sich anhand der dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht feststellen.
38 Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 25. Juni 2019 wird lediglich eine einfache medizinische Grundversorgung mit einem für die Bürger weitgehend kostenlosen Gesundheitssystem auf niedrigem Niveau sowie grundsätzlich der Bezug von gängigen Medikamenten sichergestellt. Der Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Algier vom 7. Juli 2006 an das Bundesamt (Gz. RK 516 E 5538) zufolge sollen in Algerien auch Psychosen grundsätzlich behandelbar sein. Der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 15. Februar 2005 gegenüber dem Bundesamt zufolge sollen in größeren Städten in fast allen Krankenhäusern psychiatrische Abteilungen vorhanden sein, die mit Medikamenten und Psychotherapie Traumatisierte und Kranke mit affektiven Störungen behandeln können.
39 Ob dies - insbesondere im Hinblick auf die Behandelbarkeit von Psychosen - dem aktuellen Stand entspricht, und wenn ja, ob auch eine Behandlung einer Polytoxikomanie (ICD-10-Nr. F19.2) sowie einer drogeninduzierten Psychose (ICD- 10-Nr. F19.5) gesichert ist, lässt sich danach nicht beurteilen. Unabhängig davon bestehen auch Zweifel, ob der derzeit wahrscheinlich arbeitsunfähige Antragsteller überhaupt kostenlosen Zugang zu einer solchen Behandlung hätte. [...]