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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 21.08.2019 - V ZB 60/17 - asyl.net: M27984
https://www.asyl.net/rsdb/M27984
Leitsatz:

Abschiebungsanordnung kann auch während des Vollzugs der Haft erlassen werden:

"Eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG muss im Gegensatz zur Abschiebungsandrohung nach § 59 Abs. 1 AufenthG nicht vor der Anordnung von Sicherungshaft erlassen worden sein; es genügt, wenn sie während der angeordneten Haft erlassen wird."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Abschiebungsandrohung, Abschiebungsanordnung, Rückführungsentscheidung, Dublinverfahren, Vollstreckung, Verwaltungsvollstreckungsrecht, Haftvollzug
Normen: AsylG § 34a Abs. 1 S. 2, AufenthG § 59 Abs. 1, VwVG § 6 Abs. 1, AufenthG § 62 Abs. 2 aF, AufenthG § 62b aF, FamFG § 427, AufenthG § 62, VO 604/2013 Art. 28 Abs. 2, VwVG § 12, VwVG § 13, AufenthG § 58 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

7 a) Entgegen der Annahme des Betroffenen fehlt es weder an der Abschiebungsandrohung noch an einer Rückkehrentscheidung. [...]

9 bb) Eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG muss im Gegensatz zur Abschiebungsandrohung nach § 59 Abs. 1 AufenthG nicht vor der Anordnung von Sicherungshaft erlassen worden sein; es genügt, wenn wie hier - zu erwarten ist, dass sie rechtzeitig vor Durchführung der Abschiebung bzw. Rücküberstellung und in dem angeordneten Haftzeitraum erlassen wird.

10 (1) Die Abschiebung oder Rücküberstellung, die durch die Anordnung von Abschiebungs- oder Rücküberstellungshaft gesichert werden soll, ist ein Zwangsmittel zur Durchsetzung der Ausreisepflicht. Es tritt neben die allgemein in § 9 VwVG bestimmten Zwangsmittel zur Durchsetzung der in § 6 Abs. 1 VwVG bezeichneten unanfechtbaren oder schon vorher vollziehbaren Verwaltungsakte, die auf die Vornahme einer Handlung gerichtet sind. Die durchzusetzende Handlung ist bei der Abschiebung oder Rücküberstellung die Ausreise des Ausländers, wobei die Verpflichtung zur Ausreise im Unterschied zu anderen öffentlich-rechtlichen Pflichten zur Vornahme einer Handlung allerdings auch kraft Gesetzes entstehen kann. Die Ausreisepflicht ist deshalb Voraussetzung für die Abschiebung und die zur ihrer Sicherung anzuordnenden Haft; sie muss deshalb vor einer Haftanordnung vorliegen. Entsteht sie durch Ausweisung, muss die Ausweisungsverfügung vorliegen. Liegt eine solche Verfügung nicht vor, darf nur Vorbereitungshaft nach § 62 Abs. 2 AufenthG aF, Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG aF oder Sicherungshaft im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 427 FamFG erlassen werden, aber keine Sicherungshaft in der Hauptsache nach § 62 AufenthG oder - wie hier - nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO.

11 (2) Wie jedes Zwangsmittel darf auch die Abschiebung als Sonderform des Verwaltungszwangs nach § 12 VwVG gemäß einem in § 13 Abs. 1 VwVG geregelten allgemeinen Prinzip nur angewandt werden, wenn sie schriftlich unter Setzung einer Erfüllungsfrist angedroht wird. Dies folgt bei der Abschiebung und der Rücküberstellung aus § 58 Abs. 1 und § 59 Abs. 1 AufenthG. Ohne Einhaltung dieser Vollstreckungsvoraussetzung darf die Vollstreckung und im Ausländerrecht die Abschiebung oder Rücküberstellung nicht beginnen. Ohne sie darf deshalb auch Haft zur Sicherung ihrer Durchführung nicht angeordnet werden.

12 (3) Dieses System gilt aber nach der mit § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG getroffenen Sonderregelung nicht, wenn ein Ausländer vor Abschluss eines in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Schengen-Vertragsstaat eingeleiteten Asylverfahrens nach Deutschland einreist, einen unzulässigen Asylantrag stellt und nach dessen Zurückweisung ausreisepflichtig wird oder wenn er - wie der Betroffene hier - trotz Rücküberstellung in den Erstaufnahmestaat und Verhängung eines Einreiseverbots wieder unerlaubt nach Deutschland einreist. Hier kann die Rücküberstellung des Ausländers ohne weiteres beginnen. Dem Ausländer muss nach § 34a Abs. 1 Satz 3 AsylG in Abweichung von dem Grundprinzip des § 13 Abs. 1 VwVG und abweichend von der diesem Prinzip entsprechenden ausländerrechtlichen Regelung in § 58 Abs. 1, § 59 Abs. 1 AufenthG weder die Anwendung unmittelbaren Zwangs - hier die Abschiebung bzw. Rücküberstellung gegen seinen Willen - angekündigt oder angedroht noch eine Erfüllungs- bzw. hier Ausreisefrist gesetzt werden. Stattdessen sieht § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG vor, dass der unmittelbare Zwang vor seiner Anwendung mit einer Abschiebungsanordnung förmlich angeordnet wird. Diese Anordnung dient aber nicht dazu, dem Ausländer im Hin-blick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip Gelegenheit zur freiwilligen Ausreise zu geben. Sie ist nämlich nach § 34a Abs. 1 Sätze 1 und 2 AsylG zu erlassen, sobald die Abschiebung bzw. Rücküberstellung durchgeführt werden kann. Die Abschiebungsanordnung setzt den Vollzug der Abschiebung bzw. Rücküberstellung in Gang. Sie ist keine Vollstreckungsvoraussetzung, sondern Teil des Einsatzes von Vollstreckungsmitteln und muss deshalb, wie etwa die Beschaffung der erforderlichen Passersatzpapiere oder Absprachen mit den Behörden des Empfangsstaats, nicht schon erfolgt sein, wenn die Haftanordnung ergeht. Es genügt vielmehr, wenn sie während der angeordneten Haft erlassen wird.

13 cc) Es fehlt auch nicht an der nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 (ABl. EU Nr. L 348 S. 98 - sog. Rückführungsrichtlinie) vorgeschriebenen Rückkehrentscheidung. Diese Funktion übernimmt die Abschiebungsanordnung, die als Verwaltungsakt - wie hier auch geschehen - von dem Betroffenen vor den Verwaltungsgerichten angegriffen und zur gerichtlichen Überprüfung gestellt werden kann. Sie erfüllt damit den in Erwägungsgrund 6 der Richtlinie beschriebenen Zweck der Rückkehrentscheidung, den illegalen Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens zu beenden. [...]