LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 31.05.2019 - L 4 AY 7/19 B ER - asyl.net: M27986
https://www.asyl.net/rsdb/M27986
Leitsatz:

Aufhebung eines Bescheides, mit dem Asylbewerberleistungen gekürzt werden, mangels Bestimmtheit:

1. Bei einer Leistungskürzung muss der zu kürzende Betrag genau angegeben werden. Eine prozentuale Angabe oder eine Formulierung, die kleinere Berechnungen notwendig macht, ist ausreichend. Allein die Wiedergabe des Gesetzeswortlauts reicht jedoch nicht aus.

2. Soll ein von Anfang an rechtswidriger Leistungsbescheid nachträglich zurückgenommen werden (§ 45 SGB X) hat die Behörde Ermessen auszuüben. Wenn fälschlicherweise der Bescheid nach § 48 SGB X aufgehoben wurde, ohne dass dabei Ermessen ausgeübt wurde, führt allein der Ermessenausfall zur Rechtswidrigkeit der Behördenentscheidung.

3. Im Rahmen des Ermessens sind auch die Bedürfnisse besonders Schutzbedürftiger aus Art. 14 der Rückführungsrichtlinie zu berücksichtigen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Anspruchseinschränkung, Leistungskürzung, Einreise um Sozialhilfe zu erlangen, Bestimmtheitsgebot, Sozialrecht, Ermessen, unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, besonders schutzbedürftig, Existenzminimum, soziokulturelles Existenzminimum, Rücknahme, Aufhebung,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 1, SGB X § 45, SGB X § 48, AsylbLG § 9 Abs. 4 Nr. 1, RL 2008/115/EG Art. 14
Auszüge:

[...]

In der Leistungsverwaltung ist die hinreichende Bestimmtheit gegeben, wenn die entsprechende zu gewährende Leistung hinreichend genau bezeichnet ist, sowohl hinsichtlich der Leistungsart als auch der Leistungshöhe. Bei einer Leistungsabsenkung ist eine hinreichende Bestimmtheit nur gegeben, wenn grundsätzlich der genaue Betrag festgesetzt wird, um den die konkret zuerkannte Leistung abgesenkt wird (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Oktober 2006 - L 8 AS 4922/06 ER-B -, juris; Schönenbroicher, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2014, § 37 Rn. 93), wobei eine prozentuale Angabe oder eine Formulierung, die kleinere Berechnungen notwendig macht, unschädlich ist (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 4 AS 30/09 R –, SozR 4-4200 § 31 Nr. 3, Rn. 17). Der Verfügungssatz beschränkt sich hier indes auf die Wiederholung des Wortlauts des Gesetzes; weder in der Begründung des Ausgangsbescheides noch in der Begründung des Widerspruchsbescheides ist erkennbar, dass der Bescheid vom 4. September 2018 in Höhe des Barbeitrages von 135 EUR monatlich nach § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG und der Sachleistungsgewährung bezüglich des ÖPNV-Tickets aufgehoben werden sollte. Es ist auch nicht auf andere Weise erschließbar, welche Leistungen als unabweisbar weiter gewährt werden. Eine etwaige spätere Auszahlung eines bestimmten Betrages ist dafür nicht hinreichend.

Da bei der Bestimmtheit letztlich auch fachrechtliche Fragen das hinreichende Maß bestimmen (Schönenbroicher, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2014, § 37 Rn. 92), ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass es nach dem gesetzlichen Leitbild des § 1a Abs. 1 AsylbLG Aufgabe der Behörde ist, das unabweisbar Gebotene konkret zu ermitteln und durch Verwaltungsakt eine entsprechende Leistungshöhe festzusetzen: "Inhalt und Umfang des unabweisbar Gebotenen sind durch den zuständigen Leistungsträger anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls allein bedarfsorientiert festzulegen (vgl. zu § 1a AsylbLG in der nunmehr geltenden Fassung auch BT-Drucks 18/8615, S. 35)" (BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R -, juris Rn. 21). Dass dies erfolgt ist, geht weder aus dem angefochtenen Bescheid noch aus dem Widerspruchsbescheid hervor.

Darüber hinaus genügt der Aufhebungsbescheid nicht den Anforderungen aus § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 45 SGB X; zu Unrecht hat der Antragsgegner den Bescheid auf § 48 SGB X gestützt.

Die Abgrenzung des Anwendungsbereichs von § 45 SGB X, also der Rücknahme einer von Anfang an rechtswidrigen Begünstigung, einerseits und von § 48 SGB X, also der Aufhebung eines Dauerverwaltungsakts wegen einer nachträglichen wesentlichen Änderung der für seinen Erlass maßgeblichen Umstände, andererseits erfolgt nach gefestigter Rechtsprechung (vgl. nur BSG, Urteil vom 21. Juni 2011 – B 4 AS 21/10 R –, BSGE 108, 258 [Rn. 16]) anhand der objektiv gegebenen Sach- und Rechtslage, die bei Erlass des nunmehr zur Korrektur anstehenden Verwaltungsaktes gegeben war. Auf die Kenntnis der Behörde (oder auch nur deren Kenntnismöglichkeit) oder gar auf den Abschluss der von ihr für notwendig erachteten Ermittlungen kommt es dagegen nicht an (vgl. Senatsbeschluss vom 10. Mai 2019 – L 4 AY 3/19 B ER -).

Die Einreisemotivation ist eine innere Tatsache, die naturgemäß zum Zeitpunkt der Einreise vorliegt. Bei Vorliegen dieser Tatsache war die ungekürzte Bewilligung von Leistungen nach § 3 AsylbLG am 4. September 2019 von Anfang an rechtswidrig, da die Antragstellerin zu diesem Zeitpunkt eingereist war, auch wenn der Antragsgegner die Motivation der Antragsteller zunächst aufzuklären hatte. Entscheidend ist insofern, dass § 1a Abs. 1 AsylbLG in diesem Falle bindend die Einschränkung der Leistungen vorsieht (vgl. Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, § 1a AsylbLG Rn. 26 und Rn. 99), auch wenn zur Umsetzung der Erlass eines entsprechenden Bescheides notwendig ist (vgl. in diesem Sinne LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 21. Juni 2018 – L 9 AY 1/18 B ER –, juris, Rn. 45; Bayerisches LSG, Beschl. v. 1. März 2018 L 18 AY 2/18 B ER –, juris, Rn. 30). Selbst wenn man sich dem Vortrag im Schriftsatz des Antragsgegners vom 28. Mai 2019 anschlösse, dass die Anspruchskonstruktion auch im Falle des § 1a Abs. 1 AsylbLG für eine logische Sekunde ein ungekürzter Anspruch bestünde, so bestünden diese Voraussetzungen jedenfalls nicht über diese logische Sekunde hinaus.

Eine auf § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützte behördliche Entscheidung lässt sich regelmäßig auch auf der Grundlage von § 45 Abs. 1 SGB X nicht aufrechterhalten (vgl. ausführlich BSG, Urteil vom 7. April 2016 – B 5 R 26/15 R –, SozR 4-2600 § 89 Nr. 3 [Rn. 33 ff.]). Denn im Rahmen der Anwendung von § 45 Abs. 1 SGB X muss der Leistungsträger – anders als nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X – auch bei einer Aufhebung für die Zukunft grundsätzlich Ermessen ausüben. Das hat der Antragsgegner vorliegend nicht getan. Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung war vorliegend das Ermessen auch nicht auf Null reduziert, so dass die fehlende Ermessensbetätigung aus diesem Grunde unschädlich wäre. Zwar überwiegen bei einer auf die Zukunft beschränkten Entscheidung vielfach die für die Rücknahme sprechenden Gesichtspunkte die Interessen des Betroffenen an der Aufrechterhaltung der von Anfang an rechtswidrigen Entscheidung. Das ist aber keineswegs zwingend so, insbesondere wenn – wie hier – keinerlei Verschulden der Betroffenen vorliegt.

Damit kann der Senat offenlassen, in welchem Umfang den Garantien aus Art. 14 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger vom 16. Dezember 2008 (ABl. 2009 L 348/98) zugunsten besonders schutzbedürftiger Personen (hier: Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern) bei der unionsrechtskonformen Auslegung des "unabweisbar Gebotenen" Rechnung zu tragen ist.

Auch lässt der Senat offen, welche Anforderungen an die Substantiierung von Bedarfen des sog. soziokulturellen Existenzminimums zu stellen sind, bei denen einen vollständige Kürzung der Leistungen aus § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG verfassungswidrig wäre (vgl. zu dieser vom Sozialgericht offenbar übersehenen Erwägung BSG, Urteil vom 12.Mai 2017 B 7 AY 1/16 R – juris, Rn. 35). [...]