OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 03.04.2019 - 2 LB 341/19 - asyl.net: M27992
https://www.asyl.net/rsdb/M27992
Leitsatz:

Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei der Wehrdienstentziehung eines syrischen Staats­angehörigen

1. Die bloße Wehrdienstentziehung eines syrischen Staatsangehörigen führt nicht aufgrund von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zu einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Es erscheint in Anbetracht aller relevanten Umstände weder plausibel, dass sich jeder Wehrpflichtige im Fall der Einziehung an der Begehung von Kriegsverbrechen beteiligen müsste, noch knüpfte eine etwaige Verfolgungshandlung an einen in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 3b AsylG genannten Verfolgungsgrund an.

2. Klärungsbedürftige Rechtsfragen, die eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV erfordern könnten, bestehen in diesem Zusammenhang nicht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Syrien, Wehrdienst, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Kriegsverbrechen, Aufstockungsklage, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

60 ee) Die Wehrdienstentziehung des Klägers führt auch nicht aufgrund von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zu einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG kann danach auch eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Die Anforderungen dieser Vorschrift, deren Anwendungsbereich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts hinreichend geklärt ist und daher weder eine Vorlage nach Art. 267 AEUV noch eine Revisionszulassung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 4.12.2018 - 1 B 82.18 -, juris Rn. 8 ff.) sind in zweifacher, die Entscheidung jeweils selbstständig tragender Hinsicht nicht erfüllt.

61 Ungeachtet der weiterhin offenen Frage, ob - und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen - eine Wehrdienstentziehung durch Flucht eine Verweigerung des Militärdienstes darstellen kann, setzt die Vorschrift erstens voraus, dass es in Anbetracht aller relevanten Umstände plausibel erscheint, dass der Kläger entweder als Mitglied der Kampftruppen selbst Kriegsverbrechen i.S.v. § 3 Abs. 2 AsylG begehen oder er sich bei der Ausübung anderer, etwa logistischer oder unterstützender Funktionen in hinreichend unmittelbarer Weise an solchen Verbrechen beteiligen müsste (vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2015 - C-472/13 -, juris Rn. 36 ff.). Auch bei einer Armee wie der syrischen, aus deren Reihen wiederholt und systematisch schwerste Kriegs - verbrechen begangen werden, ist das nicht ausnahmslos für jeden Militärangehörigen der mindestens 100.000 Mann starken Truppen plausibel (zu den Zahlen vgl. BFA v. 25.1.2018, S. 29). Zahlreiche Militärangehörige  nehmen ausschließlich Aufgaben wie beispielsweise die Besetzung von Checkpoints oder Kampfeinsätze ohne den Einsatz verbotener Waffen und ohne Angriffe auf die Zivilbevölkerung wahr, die nicht mit der Begehung von Kriegsverbrechen verbunden sind.

62 Das gilt in gesteigerten Maße, weil sich die Lage in Syrien zwischenzeitlich zugunsten des syrischen Regimes verändert hat. Mit der Stabilisierung des Regimes und der Rückeroberung von weiten Teilen des Landes durch die syrische Armee und ihre Verbündeten nimmt die Intensität der militärischen Auseinandersetzungen und damit die Wahrscheinlichkeit der Begehung von Kriegsverbrechen ab. Insbesondere städtische Gebiete, die unter der Herrschaft der Opposition stehen und die in besonderer Weise von Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung betroffen waren, sind kaum noch vorhanden. Dementsprechend hat die Presseberichterstattung zu aktuellen Kriegsverbrechen deutlich abgenommen. Die letzten Berichte über Chemiewaffeneinsätze stammen beispielsweise aus dem Frühjahr 2018 (vgl. AA v. 13.11.2018, S. 14 f.). Diesem Befund entspricht es, dass die vom Verwaltungsgericht Hannover in seinem Vorlagebeschluss vom 7. März 2019 (- 4 A 3526/17 -) zitierten Quellen nahezu ein Jahr alt und älter sind. Das bedeutet nicht, dass Kriegsverbrechen nicht mehr stattfinden bzw. stattfinden können. Die veränderte Kriegssituation führt aber dazu, dass kriegerische Auseinandersetzungen mit besonderem Potenzial für die Begehung von Kriegsverbrechen deutlich abgenommen haben.

63 Die gegenteilige Auffassung, die für jeden Militärangehörigen eine Begehung oder hinreichend unmittelbare Unterstützung von Kriegsverbrechen annimmt und dies insbesondere mit Darlegungs- und Beweisschwierigkeiten bei neu in die Armee eintretenden Wehrpflichtigen begründet (VG Hannover, Urt. v. 28.6.2018 - 15 A 2670/17 -, juris Rn. 38; Urt. v. 14.3.2018 - 4 A 7073/17 -, juris Rn. 53; VG Göttingen, Urt. v. 23.8.2017 - 3 A 546/17 -, juris, Rn. 23; auch Urt. v. 23.5.2018 - 3 A 719/17 -, juris), ist mit Wortlaut, Systematik und Zielrichtung der Vorschrift nicht vereinbar. Sie hätte genau die vom Europäischen Gerichtshof zu Recht verworfene Konsequenz, dass allein die Eigenschaft als (zukünftiger) Militärangehöriger zur Erfüllung des Tatbestands ausreichen würde (vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2015 - C-472/13 -, juris Rn. 34). Darin läge eine Überdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift, die mit praktischen Erwägungen wie Beweisschwierigkeiten ebenso wenig zu begründen ist wie damit, dass neu einzuziehende Wehrpflichtige in aller Regel nicht wissen können, wo und wie sie gegebenenfalls zum Einsatz gelangen werden. Einer Vorlage zum Europäischen Gerichtshof bedarf es insofern nicht; die maßgeblichen Rechtsfragen sind mit der zitierten Entscheidung geklärt (vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 4.12.2018 - 1 B 82.18 -, juris Rn. 9 ff.).

64 Keine andere Betrachtung folgt daraus, dass der der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zugrundeliegende Fall die Vereinigten Staaten von Amerika und damit einen Staat betraf, der seinerseits Kriegsverbrechen ahndet und dessen Militäreinsätze sich - zumindest grundsätzlich - im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen halten. Die Sachlage in Syrien unterscheidet sich davon zwar grundlegend. Teile der syrischen Armee begehen anerkanntermaßen Kriegsverbrechen und handeln ohne Rücksicht auf das humanitäre Völkerrecht. Diese Sachverhaltsunterschiede gestatten es jedoch nicht, für jeden Wehrpflichtigen unter Verzicht auf die Darlegung des zu erwartenden Einsatzes eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG anzunehmen. Eine Kontrollüberlegung bestätigt dieses Ergebnis: Der noch nicht eingezogene Wehrpflichtige könnte sich danach unter deutlich erleichterten Bedingungen auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG berufen als der bereits einer unverdächtigen Einheit zugewiesene Wehrdienstleistende, ohne dass der Wehrpflichtige einem signifikant erhöhten Risiko der Begehung oder Unterstützung von Kriegsverbrechen ausgesetzt wäre.

65 Zweitens folgt aus § 3a Abs. 3 AsylG, dass die Qualifizierung einer Handlung als Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 bis 6 AsylG allein nicht ausreicht, um eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahme zu begründen. Hinzukommen muss auch in den Fällen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG eine Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund, d.h. die Verfolgung muss "wegen" bestimmter Verfolgungsgründe drohen (BVerwG, Beschl. v. 5.12.2017 - 1 B 131.17 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 4.12.2018 - 1 B 82.18 -, juris Rn. 8). Mit dem Bundesverwaltungsgericht ist auch der Senat der Auffassung, dass Wortlaut und Systematik sowohl des § 3a AsylG als auch des Art. 9 RL 2011/95/EU keine andere Lesart gestatten.

66 § 3a AsylG, der in den entscheidenden Passagen mit Art. 9 RL 2011/95/EU wörtlich übereinstimmt, trifft ausweislich seiner amtlichen Überschrift und den eindeutigen Formulierungen in seinen Absätzen 1 und 2 eine Regelung ausschließlich zu Verfolgungshandlungen. § 3a Abs. 3 AsylG führt sodann aus, dass zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen muss. Der Wortlaut des § 3a Abs. 3 AsylG ist insofern nahezu deckungsgleich mit Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU, wobei dort nicht ausdrücklich auf Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU Bezug genommen wird. In der Sache folgt daraus jedoch kein Unterschied, denn die in Absatz 2 genannten Verfolgungshandlungen stellen lediglich Regelbeispiele dar, die die allgemeine Definition in Absatz 1 ausfüllen. Die Regelung zu den Verfolgungsgründen findet sich sodann - wie wiederum bereits die amtlichen Überschriften hervorheben - in § 3b AsylG bzw. in Art. 10 RL 2011/95/EU.

67 Aus Wortlaut und Systematik dieser Bestimmungen folgt, dass nach der eindeutigen Anordnung sowohl des nationalen als auch des europäischen Rechts auf das Vorliegen eines Verfolgungsgrundes nicht verzichtet werden kann. Dies deckt sich mit dem allgemeinen, in Art. 1 lit. A Nr. 2 GFK zum Ausdruck kommenden Grundsatz des Flüchtlingsrechts, dass Flüchtling nur ist, wer "wegen" eines der dort genannten Merkmale verfolgt ist. Dass Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU diesen Grundsatz durchbrechen möchte, ist nicht ersichtlich. Auch das Verwaltungsgericht Hannover benennt ebenso wie der Kläger keinen Gesichtspunkt, der für eine andere Rechtsauffassung streiten könnte. Eine Begründung fehlt insofern vollständig. Auch in der Kommentarliteratur wird - soweit ersichtlich - nicht vertreten, dass auf das Vorliegen eines Verfolgungsgrundes verzichtet werden kann (vgl. nur Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3a Rn. 50 f.). Lediglich die Anforderungen an den Nachweis sind nach einer im angelsächsischen Rechtsraum vertretenen Auffassung reduziert (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, Rn. 207 ff. m.N.). Begründet wird dies entweder damit, dass das kriegführende Regime in jedem Verweigerer einen Oppositionellen sieht und ihn deshalb aus politischen Gründen bestraft, oder aber eine Verfolgung an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anknüpft. Beides scheidet in den Fällen der Wehrdienstentziehung syrischer Staatsangehöriger aus. Ein Verfolgungsgrund im Sinne eines politischen Motivs aufgrund der Unterstellung einer regimefeindlichen Gesinnung liegt - wie oben ausgeführt - nicht vor (vgl. auch bereits enatsbeschl. v. 8.2.2018 - 2 LA 1784/17 -, juris Rn. 15 f.). Auch an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe knüpft eine etwaige Verfolgungshandlung nicht an (vgl. Senatsbeschl. v. 11.3.2019 - 2 LB 284/19 -, juris Rn. 61 ff.). [...]