VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 19.11.2019 - 27 K 18322/17.A - asyl.net: M28008
https://www.asyl.net/rsdb/M28008
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot hinsichtlich Nigeria trotz HIV-Infektion:

1. Obwohl in Nigeria viele Menschen mit dem HIV infiziert sind, stellt eine HIV-Infektion keine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG dar. Die Feststellung eines Abschiebungsverbots ist daher nicht ausgeschlossen.

2. Personen, die jung und arbeitsfähig sind und eine überdurchschnittliche Schulbildung haben, können sich die medizinische Behandlung in Nigeria leisten.

(Leitsätze der Redaktion, anders jedoch VG Karlsruhe, Urteil vom 16.10.2019 - A 4 K 10388/18 - asyl.net: M27951)

Schlagwörter: Nigeria, HIV/AIDS, Abschiebungsverbot, Krankheit, allgemeine Gefahr, medizinische Versorgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die HIV-Infektion in Nigeria stellt keine allgemeine Gefahr im Sinne der Vorschrift dar. Denn die nigerianische Bevölkerung ist nicht allgemein einer beachtlichen Gefahr einer HIV-Infektion ausgesetzt. Zwar hat Nigeria in absoluten Zahlen eine der größten HIV-Epidemien der Welt. Gleichwohl im Vergleich zur Gesamtbevölkerung von ca. 200 Millionen Menschen nur 1,9 Millionen Menschen mit HIV infiziert. Die Prävalenzrate für Personen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren beträgt nur 1,5% (vgl. www.avert.org/professionals/hiv-around-world/sub-saharan-africa/nigeria; so für eine Prävalenzrate von 1,5% in Sierra-Leone: OVG NRW, Beschluss vom 6. September 2007 – 11 A 633/05.A –, juris, Rn. 30ff.). [...]

Wie sich nunmehr auch aus § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG ergibt, muss jeder ausreisepflichtige Ausländer jenseits eines Abschiebungsverbots im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG in medizinischer Hinsicht grundsätzlich auf den in seinem Herkunftsstaat allgemein üblichen Standard verwiesen werden.

Nach diesen Maßgaben besteht für den Kläger auf Grund seiner HIV-Erkrankung in Nigeria keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und/oder Leben, weil es nicht beachtlich wahrscheinlich ist, dass es bei einer Rückkehr nach Nigeria in naher Zukunft zu einer schwerwiegenden und wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes kommt. Nach den vorgelegten ärztlichen Attesten steht für das Gericht fest, dass der Kläger an einer HIV-Infektion leidet und deshalb regelmäßiger Behandlung in Form einer antiretroviralen Therapie bedarf. Dem Kläger ist es im Falle einer Rückkehr nach Nigeria jedoch möglich die medikamentöse Behandlung seiner HIV-Infektion sowie die regelmäßig erforderlichen ärztlichen Untersuchungen sicherzustellen. Denn eine entsprechende Therapie ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen in Nigeria möglich. Es gibt HIV-Abteilungen und HIV-Sprechstunden in privaten und öffentlichen Kliniken sowie bei NGO’s (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Hannover vom 21. Februar 2018, Möglichkeit der Behandlung einer HIV-Infektion in Nigeria; National Agency for the Control of Aids (NACA), National Guidelines for HIV Prevention, Treatment and Care, naca.gov.ng/national-guidelines-hiv-preventiontreatment-care-3/).

Eine solche Behandlung ist für den Kläger auch erreichbar. Denn im Rahmen des nationalen HIV/AIDS-Kontrollprogramms sind die entsprechenden Medikamente kostenlos erhältlich. 42 Prozent der mit HIV infizierten Personen in Nigeria nehmen antiretrovirale Medikamente ein (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Hannover vom 21. Februar 2018, Möglichkeit der Behandlung einer HIV-Infektion in Nigeria; . Bundesrepublik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Nigeria, Gesamtaktualisierung vom 12. April 2019, S. 53f.; vgl. auch: National Agency for the Control of Aids (NACA), National Guidelines for HIV Prevention, Treatment and Care, naca.gov.ng national-guidelines-hiv-prevention-treatment-care-3/; vgl. www.unaids.org/en/regionscountries/countries/nigeria).

Dem steht auch nicht entgegen, dass die Versorgung mit solchen Medikamenten hauptsächlich in den Großstädten in Nigeria und weniger im ländlichen Bereich verfügbar ist, der Kläger unter Umständen Kosten für einzelne Blutuntersuchungen zu tragen hätte und er von Teilen der Bevölkerung stigmatisiert würde (vgl. hierzu insgesamt: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nigeria: Behandlung von HIV/Aids, Auskunft vom 26. März 2014, www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/afrika/nigeria/nigeria-behandlung-vonhiv-aids.pdf, S. 4ff.).

Denn es ist dem Kläger als arbeitsfähigem Mann möglich und zumutbar, seinen Wohnsitz innerhalb Nigerias an einen Ort zu verlagern, an dem er Zugang zu der benötigten Therapie hat. Gemäß § 60 Abs. 7 S. 5 AufenthG liegt eine ausreichende medizinische Versorgung in der Regel auch dann vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Selbst wenn der Kläger zusätzliche Kosten für einzelne Blutuntersuchungen tragen müsste, ist zunächst schon nicht ersichtlich, warum er die finanziellen Mittel hierfür nicht durch eine Arbeitsaufnahme erwirtschaften können sollte. So könnte er etwa an die vor seiner Ausreise ausgeübte Tätigkeit als selbständiger Bauarbeiter anknüpfen. Zudem verfügt er nach eigenen Angaben noch über familiäre Kontakte in Nigeria, jedenfalls in Gestalt einer jüngeren Schwester.

Unabhängig davon würde die Unterlassung von Blutkontrolluntersuchungen nicht zu einer erheblichen, konkreten Gefahr für Leib oder Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG führen, sondern die langfristige Unterbrechung der antiretroviralen Therapie. Diese ist indes – wie ausgeführt – sichergestellt. Dafür, dass eine Stigmatisierung des Klägers durch Teile der nigerianischen Bevölkerung dazu führen würde, dass die Behandlung für ihn nicht mehr erreichbar wäre, ist nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass dem Kläger ausweislich des letzten ärztlichen Attestes des Dr. med. ... aus ... vom ... 2019 das Medikament Genvoya verordnet worden ist, weil bei ihm eine mittelgradige Niereninsuffizienz bestehe, weshalb der Einsatz von tenofovirhaltigen Medikamenten zu vermeiden sei. Zunächst ist hiermit – unterstellt, der Kläger würde in Nigeria tenofovirhaltige Medikamente erhalten – eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Klägers nicht substantiiert dargelegt. Nach seinen eigenen Angaben wird der Kläger nicht nephrologisch behandelt. Unabhängig davon ist – soweit ersichtlich – auch in den Präparat Genvoya der Wirkstoff Tenofovir enthalten (vgl. etwa www.ema.europa.eu/en/documents/overview/genvoya-epar-summary-public_de.pdf).

Zudem müsste der Kläger sich auch insofern gemäß § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG auf den in seinem Herkunftsstaat allgemein üblichen Standard verweisen lassen. Dem ist es immanent, dass aufgrund dessen auch unerwünschte Nebenwirkungen einer Behandlung auftreten können, die solange hinzunehmen sind, wie sie nicht in absehbarer Zeit zu einer erheblichen, konkreten Gefahr für Leib oder Leben des Betroffenen führen (so etwa auch: VG Köln, Urteil vom 13. Dezember 2016 – 22 K 3766/15.A –, juris, Rn. 21).