BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 02.12.2019 - 1 B 75.19 - asyl.net: M28021
https://www.asyl.net/rsdb/M28021
Leitsatz:

Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate auch nach "Wiederauftauchen":

"1. Die Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist kein Verwaltungsakt.

2. Bei "Wiederauftauchen" eines flüchtig gewesenen Schutzsuchenden ist nach erfolgter Verlängerungsmitteilung an den zuständigen Mitgliedstaat unter Benennung der neuen Überstellungsfrist die Überstellungsfrist nicht nachträglich auf sechs Monate begrenzt oder zu begrenzen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, flüchtig, Verwaltungsakt, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, Wiederauftauchen,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 1, VwGO § 133,
Auszüge:

[...]

Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO sieht für die Verlängerung eine gesonderte, gegenüber dem Schutzsuchenden zu treffende Entscheidung nicht ausdrücklich vor. Die Verlängerungsentscheidung ist (innerstaatlich) eine - tatbestandlich gebundene - Verfahrensentscheidung, die (außerstaatlich) dem zuständigen, ersuchten Staat mitzuteilen ist, um einem Zuständigkeitsübergang durch Ablauf der Überstellungsfrist zu begegnen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin III-VO dahin auszulegen, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 75). Eine besondere Rechtsform der vorgelagerten innerstaatlichen Verfahrensentscheidung, den zuständigen Mitgliedstaat zu unterrichten, wird weder erwähnt noch vorausgesetzt; auch eine Mitteilung an den Schutzsuchenden ist nicht vorgesehen. Sie wäre - jedenfalls als Wirksamkeitsvoraussetzung der Mitteilung gegenüber dem zuständigen Mitgliedstaat - überdies geeignet, in der in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 der Dublin III-VO genannten Situation diese Bestimmung schwer anwendbar zu machen und ihr einen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit zu nehmen, weil sie eine Bekanntgabe an eine Person voraussetzte, die als flüchtig anzusehen ist. [...]

2.2 Die von dem Kläger weiterhin aufgeworfene Frage, "Muss die zuständige Behörde - hier: das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - bei dieser Entscheidung Ermessen ausüben?", bedarf bereits wegen ihres erkennbaren Bezuges zu der - zu verneinenden - Frage zur Handlungsform der Verlängerungsentscheidung (s.o. 2.1) als Folgefrage keiner eigenständigen Beantwortung.

Im Übrigen fehlt es an der hinreichenden Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der so gestellten Frage. Der Umstand, dass das Bundesamt der Beklagten im Rahmen seines weiten Verfahrensermessens sowohl darüber zu befinden hat, ob die Verlängerungsmitteilung an den zuständigen Mitgliedstaat ergeht, als auch darüber, ob für die neue Überstellungsfrist die unionsrechtlich eröffnete Höchstfrist von achtzehn Monaten auszuschöpfen ist, macht diese Entscheidung jedenfalls nicht zu einer "Ermessensentscheidung" im Sinne des § 40 VwVfG, die nach § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG zu begründen wäre. Lagen - wie hier nach den nicht mit beachtlichen Verfahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts - die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Verlängerungsmitteilung an den zuständigen Mitgliedstaat vor, ist eine Verlängerung auf bis zu achtzehn Monate unionsrechtlich vorgesehen und willkürfrei möglich. Der bei nationalem Begriffsverständnis auf eine Ermessensentscheidung deutende Begriff "kann" weist bei der unionsweit gebotenen Betrachtung lediglich auf die Einräumung einer entsprechenden Ermächtigung (sog. "Kompetenz-Kann"; dazu BVerwG, Beschluss vom 22. August 2016 - 1 B 44.16 - juris). Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO enthält insoweit keine weiteren Einschränkungen. Sie ergeben sich in Fällen fluchtbedingter Verlängerung (Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO) auch nicht aus der - aus von dem Schutzsuchenden zu vertretenden Gründen - nicht anwendbaren Regelüberstellungsfrist; Beschränkungen ergeben sich auch nicht aus der DurchführungsVO (EG) Nr. 1560/2003 (Verordnung vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist) (s. VG Greifswald, Urteil vom 15. November 2017 - 3 A 2051/16 As HGW - juris Rn. 28; VG Trier, Urteil vom 27. August 2019 - 7 K 178/18.TR - juris; VG Bremen, Beschluss vom 28. Juni 2019 - 6 V 860/19 - AuAS 2019, 178 <180>; s.a. Brauer, ZAR 2019, 256 <262>). Dass das Bundesamt der Beklagten diesen Rechtsrahmen nicht gewahrt hat, macht die Beschwerde nicht geltend. [...]

2.3 Die Frage schließlich, "Muss die zuständige Behörde erneut eine Entscheidung treffen und verkürzt sich die Überstellungsfrist des Art. 29 Dublin III-VO von 18 Monaten auf 6 Monate, wenn ein flüchtig gewesener Ausländer sich wieder bei den Behör- den meldet?", ist ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens in der gestellten Form mithilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung zu verneinen, und zwar auch in Ansehung des von der Beschwerde herangezogenen Urteils des VG Trier vom 16. November 2018 - 1 K 12434/17.TR - (juris Rn. 32 ff.).

Die Dublin III-VO enthält im Kapitel VI für das Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren (Art. 21 f., 23 ff.) sowie die Überstellung (Art. 29) ein ausdifferenziertes Fristenregime, regelt die Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung der Fristen und enthält Verfahrensgarantien für die Betroffenen (Art. 26, 27). Dem Wortlaut dieser detaillierten Regelungen ist nichts dafür zu entnehmen, dass eine - rechtmäßig - nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO verlängerte Überstellungsfrist eo ipso sich dann veränderte, wenn ein zeitweilig flüchtiger Schutzsuchender nach der Verlängerungsmitteilung wieder auftaucht, die Behörde dann die Überstellungsfrist von Amts wegen erneut zu bestimmen hätte (und zwar auf höchstens sechs Monate nach dem Wiederauftauchen) oder dem Schutzsuchenden ein Anspruch auf Fristverkürzung zustehen könnte; der DurchführungsVO (EG) Nr. 1560/2003 lässt sich insoweit ebenfalls nichts entnehmen. Auch das Urteil des EuGH vom 19. März 2019 (C-163/17), das auf Vorlage des Berufungsgerichts im vorliegenden Verfahren ergangen ist, enthält keinen Hinweis auf die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit der nachträglichen Verkürzung - sei es automatisch, sei es durch behördliche Entscheidung - einer einmal rechtmäßig mitgeteilten Verlängerung der Überstellungsfrist, obwohl dem EuGH bewusst war, dass der Kläger bereits am Tage der Verlängerungsmitteilung "wiederaufgetaucht" war (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 32). [...]