Berechnung der Dublin-Überstellungsfrist:
"Die Überstellungsfrist bestimmt sich nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Variante 2 Dublin III-VO (Beginn mit Ende der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs), wenn gegen eine sofort vollziehbare Überstellungsentscheidung fristgemäß Klage und Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO eingelegt werden.
Wird Überstellungsentscheidung rückwirkend aufgehoben, bestimmt sich die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Variante 1 Dublin III-VO (Beginn mit Annahme des Übernahmeersuchens)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
22 Grundsätzlich läuft die Überstellungsfrist daher, nach der ersten Variante des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO, mit der Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs an.
23 Die zweite Variante des 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO greift erst dann, wenn der Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung erlässt, diese aber nicht vollziehen kann, weil der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegt, der in Umsetzung der Vorgaben von Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat (BVerwG, Beschluss vom 27. April 2016 – BVerwG 1 C 22/15 –, juris Rn. 20). Sie wahrt zum einen die Effektivität des gerichtlichen Rechtsschutzes des Betroffenen und stellt zum anderen sicher, dass der Mitgliedstaat dennoch die volle Frist zur Bewerkstelligung der Überstellung verbleibt (BVerwG a.a.O. Rn. 19). Der Lauf der Überstellungsfrist beginnt daher erst, wenn eine gerichtliche Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird, der Überstellungsdurchführung nicht mehr entgegenstehen kann, sie wird mithin so lange herausgeschoben, wie die Überstellungsentscheidung wegen des Rechtsbehelfs nicht vollzogen werden kann (BVerwG a.a.O. Rn. 19, 21 unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 –, Rn. 43 ff).
24 b. Nach dieser Maßgabe ist der Anwendungsbereich der zweiten Variante eröffnet, wenn – wie hier – eine sofort vollziehbare Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylG erlassen wird, gegen die der Betroffene fristgemäß Klage erhebt und die Anordnung ihrer aufschiebenden Wirkung beantragt. Denn in diesem Fall ist gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG, mit dem Art. 27 Abs. 3 lit. c der Dublin III-VO umgesetzt wird, eine Überstellung vor der gerichtlichen Entscheidung über den Aussetzungsantrag ausgeschlossen.
25 aa. Die Überstellungsfrist beginnt in diesem Fall erst dann zu laufen, wenn das Gericht den Aussetzungsantrag zurückweist (zu diesem Fall: BVerwG, Beschluss vom 27. April 2016 – BVerwG 1 C 22/15 –, juris Rn. 22) oder dieser zurückgenommen wird.
26 bb. Gibt das Gericht dem Aussetzungsantrag hingegen statt, so beginnt die Überstellungsfrist erst mit dem Ende der aufschiebenden Wirkung der Klage zu laufen, mithin gemäß § 80b Abs. 1 VwGO mit der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsanordnung – d. h. bei rechtskräftiger Abweisung oder Rücknahme der Klage – bzw. im Fall erstinstanzlicher Klageabweisung, vorbehaltlich einer Verlängerung durch das Berufungsgericht, drei Monate nach Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG (zu diesem Fall: BVerwG, Urteil vom 09. August 2016 – BVerwG 1 C 6/16 –, juris Rn. 20).
27 cc. Für eine Anwendung der zweiten Variante ist hingegen kein Raum, wenn die Abschiebungsanordnung rückwirkend aufgehoben wird, weil es dann an einer – nach dem vorgenannten Maßstab für deren Anwendung erforderlichen – Überstellungsentscheidung fehlt.
28 So liegt der Fall, wenn ein rechtskräftiges stattgebendes Urteil ergeht, welches den Verwaltungsakt grundsätzlich rückwirkend beseitigt (Kopp/ Schenke, VwGO 19. Aufl. 2019 § 113, Rn. 8; Schoch/Schneider/Bier/Riese, 37. EL Juli 2019, VwGO § 113 Rn. 79; BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 1982 – BVerwG 2 C 4/80 –, Rn. 11, juris). Ebenso liegt der Fall, wenn die Behörde selbst sich dafür entscheidet, eine als rechtswidrig erkannte Überstellungsentscheidung mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG).
29 In diesem Fall ist eine Anwendung der zweiten Variante auch nicht im Hinblick darauf geboten, dass zwischenzeitlich eine Überstellungsentscheidung vorlag, auf deren Rechtmäßigkeit bzw. künftige Vollziehbarkeit der ersuchende Mitgliedstaat möglicherweise anfangs vertraut hat. Denn die zweite Variante schützt den ersuchenden Mitgliedstaat lediglich vor negativen Folgen der fehlenden Vollziehbarkeit seiner Überstellungsentscheidung, stellt ihn hingegen nicht von der Verantwortlichkeit für deren Rechtmäßigkeit frei. Die nachteiligen Folgen der Rechtswidrigkeit sind daher, auch wenn sie sich erst nachträglich herausstellen, von dem ersuchenden Mitgliedstaat und nicht vom Asylbewerber zu tragen.
30 Ist daher für eine Anwendung der zweiten Variante kein Raum, so bestimmt sich der Beginn der Überstellungsfrist allein nach dem Zeitpunkt der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs – erste Variante –. Hat eine frühere Überstellungsentscheidung keinen Bestand, so kann eine weitere Überstellungsentscheidung daher nur noch während des ursprünglichen Laufs der Überstellungsfrist ergehen. [...]