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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 29.10.2019 - 1 C 43.18 - asyl.net: M28039
https://www.asyl.net/rsdb/M28039
Leitsatz:

Abstammung von einem bei Kriegsende noch lebenden deutschen Volkszugehörigen:

1. § 4 Abs. 1 Nr. 3 und § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG liegt ein weiter, generationenübergreifender Abstammungsbegriff zugrunde, der neben den Eltern auch die Voreltern, mithin die Großeltern und gegebenenfalls auch die Urgroßeltern erfasst (Bestätigung der Rechtsprechung, vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2008 - 5 C 8.07 - BVerwGE 130, 197).

2. Spätaussiedler im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG kann nur sein, wer von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt, der zu dem nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 BVFG maßgeblichen Stichtag noch gelebt und seinen Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet hat.

3. Die deutsche Volkszugehörigkeit der Person, von der die Abstammung hergeleitet wird, beurteilt sich im Rahmen sowohl des § 4 Abs. 1 Nr. 3 als auch des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufnahmebescheid, Spätaussiedler, Abstammung, deutsche Abstammung, Großeltern, Großvater, Enkel, Beurteilungszeitpunkt, Wohnsitz, Aussiedlungsgebiet,
Normen: BVFG§ 4 Abs. 1 Nr. 3, BVFG § 6 Abs. 2 S. 1, BVFG § 4 Abs. 1 Nr. 3, BVFG § 4 Abs. 1 Nr. 1, BVFG § 4 Abs. 1 Nr. 2, BVFG § 4 Abs. 1 Nr. 3, BVFG § 6 Abs. 2 S. 1, BVFG § 26, BVFG § 27 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

12 a) Sowohl § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG als auch § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG liegt ein weiter, generationenübergreifender Abstammungsbegriff zugrunde (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2008 - 5 C 8.07 - BVerwGE 130, 197 Rn. 12 ff.). Dieser erfasst als Bezugspersonen nicht allein die Eltern, sondern auch die Voreltern, zu denen neben den Großeltern gegebenenfalls auch die Urgroßeltern zählen (a.A. OVG Münster, Urteil vom 2. Juli 2018 - 11 A 2091/17 - juris Rn. 22 ff.). Eine geschlossene Kette deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit ist insoweit nicht erforderlich.

13 Der Begriff der Voreltern ist nach seinem natürlichen Sprachgebrauch nicht auf eine bestimmte Anzahl von Generationen begrenzt. Er steht vielmehr für eine unbestimmte Bezeichnung der entfernteren Ahnen (DeutschesWörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854-1961, Bd. 26 <1951>, Sp. 998) und erfasst in biologischer Hinsicht die Verwandten in gerader aufsteigender Linie (§ 1589 Abs. 1 Satz 1 BGB; vgl. auch von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, Stand September 2019, § 6 BVFG n.F. Rn. 198 f.). Auch im vertriebenenrechtlichen Kontext weist nichts auf eine Beschränkung des Verwandtschaftsgrades oder für den Abkömmlingsbegriff auf das Erfordernis einer durch die deutsche Staatsangehörigkeit oder die deutsche Volkszugehörigkeit vermittelten ununterbrochenen Kette hin. [...]

17 b) Spätaussiedler im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG kann nur sein, wer von einem deutschen Staatsangehörigen oder einem deutschen Volkszugehörigen abstammt (aa), der zu dem nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 BVFG maßgeblichen Stichtag noch - mit Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet - gelebt hat (bb).

18 aa) Die Person, von der der Aufnahmebewerber abstammt, muss ihrerseits die deutsche Staatsangehörigkeit oder die deutsche Volkszugehörigkeit besitzen.

19 Allerdings ist der Wortlaut des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG insoweit unergiebig, als er einerseits ein entsprechendes einschränkendes Merkmal nicht ausdrücklich vorsieht, andererseits einem solchen auch nicht widerstreitet.

20 Auf das Erfordernis einer deutschen Staatsangehörigkeit oder einer deutschen Volkszugehörigkeit der Bezugsperson weist indes insbesondere der enge Konnex zwischen § 4 Abs. 1 BVFG und § 6 Abs. 2 BVFG (in diesem Sinne auch von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, Stand September 2019, § 6 BVFG n.F. Rn. 204). Danach bedingt der Status als Spätaussiedler im Sinne des § 4 Abs. 1 BVFG im Regelfall, dass der Aufnahmebewerber deutscher Volkszugehöriger ist, was gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG dann der Fall ist, wenn er von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat. Somit ist Spätaussiedler im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG nur derjenige deutsche Volkszugehörige, der seinerseits von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt. Abstammung bedeutet mithin Abstammung von deutschen Personen (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Februar 1979 - 8 C 61.78 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 37 S. 17). [...]

23 bb) § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG setzt im Unterschied zu § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG zudem voraus, dass die Bezugsperson die Stichtagsvoraussetzung des 8. Mai 1945 nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 BVFG oder des 31. März 1952 nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 BVFG erfüllt. Sie muss daher grundsätzlich am 8. Mai 1945, für den Fall ihrer Vertreibung oder der Vertreibung eines Elternteils am 31. März 1952, ihren Wohnsitz in dem Aussiedlungsgebiet gehabt und damit zu diesen Stichtagen noch gelebt haben.

24 Der Wortlaut des § 4 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Nr. 1 oder 2 BVFG ist diesbezüglich eindeutig und einer Auslegung nicht zugänglich. Eine analoge Anwendung oder teleologische Extension der Norm auf den Fall der Abstammung des Aufnahmebewerbers von einem Vorelternteil deutscher Volkszugehörigkeit, der bei Beginn der mit dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941 einsetzenden inneren Vertreibungsmaßnahmen (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 1995 - 9 C 293.94 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 78 S. 39 und 42 ff.) seinen Wohnsitz in dem Aussiedlungsgebiet hatte und diesen bis zu seinem Tod vor dem Wirksamwerden der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 beibehalten hatte, kommt nicht in Betracht. Insoweit fehlt es schon an einer planwidrigen Regelungslücke. [...]

25 c) Im Rahmen sowohl des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG als auch des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG ist hinsichtlich des Vorliegens der deutschen Volkszugehörigkeit der Bezugsperson auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers abzustellen.

26 Sowohl § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG als auch § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG knüpfen, wenn auch in anderem Zusammenhang, an das Merkmal der Geburt an.Wie unter a) ausgeführt, ist der Begriff der Abstammung in dem Sinne biologisch geprägt, als keine weitergehende Vermittlung der deutschen Volkszugehörigkeit im sprachlich-kulturellen oder sozialen Sinne gefordert ist. Ob jemand von einem deutschen Volkszugehörigen oder deutschen Staatsangehörigen abstammt, wird dann aber im Zeitpunkt der Geburt fixiert und ist keinen Veränderungen im weiteren Zeitverlauf zugänglich. [...]

28 e) Demgegenüber verstößt die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, für die Frage der Abstammung könne nicht auf die Mutter des Klägers abgestellt werden, da diese nach dessen Angaben und den vorgelegten Unterlagen russische Volkszugehörige sei, gegen § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG i.V.m. § 6 BVFG a.F., da das Berufungsgericht dieser Bewertung nach dem Zusammenhang ersichtlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung, nicht hingegen diejenige im Zeitpunkt der Geburt des Klägers zugrunde gelegt hat. Damit ist es von einem unzutreffenden Prüfungsmaßstab ausgegangen.

29 Ausgehend von der Rechtslage im Zeitpunkt der Geburt des Klägers wäre die Volkszugehörigkeit seiner Mutter unter Rückgriff auf die Grundsätze der Rechtsprechung zu § 6 BVFG in der vor dem 1. Januar 1993 gültigen Fassung zu beurteilen gewesen. Das alte, bis zum 31. Dezember 1992 geltende Recht unterschied zwischen bekenntnisfähigen Personen, nämlich solchen, die bei Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen für ein Bekenntnis reif genug waren, zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekenntnisfähigen Personen (sog. bekenntnisunfähige Frühgeborene) und nach diesem Zeitpunkt geborenen Personen (sog. Spätgeborene) (BVerwG, Urteil vom 29. August 1995 - 9 C 391.94 - BVerwGE 99, 133 <136 f.>). Zu Beginn der Vertreibungsmaßnahmen am 22. Juni 1941 war die Mutter des Klägers noch keine sechs Jahre alt und damit bekenntnisunfähig. Bei einem Kind, das kurz vor Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen noch nicht selbst ein verbindliches eigenes Volkstumsbekenntnis ablegen konnte, war entscheidend auf die Volkszugehörigkeit der Eltern und bei Eltern verschiedenen Volkstums wiederum darauf abzustellen, ob der die Familie prägende Elternteil zum maßgeblichen Zeitpunkt deutscher Volkszugehöriger war. Maßgebend war daher insoweit, ob sich die Eltern oder der die Familie zu diesem Zeitpunkt prägende Elternteil kurz vor Beginn der Vertreibungsmaßnahmen zum deutschen Volkstum bekannt haben. [...] Somit konnte auch ein Kind aus einer Familie im gemischten Volkstum deutscher Volkszugehörigkeit sein, wenn der die Familie prägende Elternteil deutscher Volkszugehöriger war (BVerwG, Urteile vom 11. Dezember 1974 - 8 C 97.73 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 27 S. 26 f., vom 23. Februar 1988 - 9 C 41.87 - BVerwGE 79, 73 <75 f.> und vom 16. Februar 1993 - 9 C 25.92 - BVerwGE 92, 70 <73>).

30 Das Oberverwaltungsgericht hat es - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - unterlassen zu prüfen, ob die Mutter des Klägers im maßgeblichen Zeitpunkt von dessen Geburt nach der seinerzeitigen Rechtslage mit Blick auf eine etwaige deutsche Volkszugehörigkeit ihres Vaters als deutsche Volkszugehörige einzustufen war. Während die Großmutter mütterlicherseits nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts russischer Volkszugehörigkeit war, soll der Großvater mütterlicherseits nach dem von Seiten der Beklagten bestrittenen Vortrag des insoweit darlegungs- und feststellungsbelasteten Klägers die deutsche Volkszugehörigkeit besessen haben. Wäre er für diesen Fall bei Beginn der Vertreibungsmaßnahmen zudem der für die Bekenntnislage in der Familie prägende Elternteil gewesen, so wäre die Mutter des Klägers in dem maßgeblichen Zeitpunkt von dessen Geburt ebenfalls als deutsche Volkszugehörige einzustufen.