VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Beschluss vom 03.01.2020 - 2 L 2945/19.KS.A - asyl.net: M28041
https://www.asyl.net/rsdb/M28041
Leitsatz:

Fehlende Selbstgestellung führt nicht zur Flüchtigkeit.

1. Will ein Asylantragsteller nach Ablauf der Überstellungsfrist eines bestands- oder rechtskräftigen Dublin­bescheides die Prüfung seines Verfahrens in dem Land erreichen, welches den Dublinbescheid erlassen hat, hat er einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu stellen.

2. Dieser (Wiederaufgeifens-) Antrag ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes über § 123 VwGO sicherungsfähig.

3. Folgt ein Asylantragsteller nicht der Aufforderung, sich zu seiner Abschiebung an den Flughafen zu begeben (sog. Selbstgestellung), führt dies nicht dazu, dass er flüchtig i.S.v. § 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO ist, so dass sich auch die Überstellungsfrist nicht verlängert.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, flüchtig, Selbstgestellung, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, einstweilige Anordnung,
Normen: VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 29, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2, VwGO § 123,
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist zulässig. Er ist insbesondere statthaft. Dem steht nicht § 123 Abs. 5 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO, § 34a Abs. 2 AsylG entgegen. Zwar war gegen den streitgegenständlichen Bescheid vom 22. März 2019 zunächst (allein) einstweiliger Rechtsschutz nach Maßgabe des § 80 Abs. 5 VwGO eröffnet, so dass ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 Abs. 5 VwGO (zunächst) unstatthaft war. Ist die Abschiebungsanordnung jedoch - wie vorliegend - bestandskräftig geworden, muss der Betroffene in unmittelbarer Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG einen Antrag bei der Antragsgegnerin auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellen, wenn er eine nachträgliche Änderung der Sach- und /oder Rechtslage geltend machen und eine Sachentscheidung über sein Asylbegehren erzwingen will. Zur Sicherung dieses Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens kann der Antragsteller im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO beantragen, dass der Antragsgegnerin aufgeben wird, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht aufgrund der früheren Mitteilungen und der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung abgeschoben werden darf (VG Greifswald, Beschl. v. 12.06.2019 - 3 B 844/19 HGW, juris Rn. 14 m.w.N.). Dies folgt nicht zuletzt aus Art. 19 Abs. 4 GG. [...]

Dem Antragsteller steht ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu, da die Überstellungsfrist (derweil) abgelaufen ist. Der Antragsteller kann demnach gegenüber der Antragsgegnerin eine nachträgliche Veränderung der Sach- und Rechtslage zu seinen Gunsten geltend machen, so dass gem. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG auf seinen Antrag vom 14. November 2019 über die Aufhebung oder Änderung des Bescheides vom 22. März 2019 über sein Asylbegehren in der Sache zu entscheiden ist. Die Ablehnung der Aufhebung oder Änderung durch den Bescheid vom 15. November erweist sich als offensichtlich rechtswidrig, weil die Überstellungfrist derweil abgelaufen ist. [...]

Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin hat sich die Überstellungsfrist nicht auf 18 Monate dadurch verlängert, dass der Antragsteller sich nicht aufforderungsgemäß (Schreiben der Ausländerbehörde vom 09.09.2019) zu seiner Überstellung am Flughafen eingefunden hat. [...]

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Ausländerbehörde vorliegend berechtigt war dem Antragsteller die Selbstgestellung gem. § 82 Abs. 4 S. 1 AufenthG aufzugeben oder ob eine entsprechende Mitwirkungspflicht aus § 15 Abs. 2 Nr. 3 AsylG folgt, denn selbst wenn eine solche Pflicht bestünde, wäre der Antragsteller nicht flüchtig i.S.v. § 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut. Eine Flucht durch bloßes Nichtstun kann es begrifflich nicht geben. Auch die französische ("prend la fuite"), die italienische ("sia fuggito") und die spanische ("en caso de fuga") Fassungen der vorgenannten Bestimmung stellen auf eine Flucht ab. Schließlich folgt aus der englischen Fassung ("absconds") nicht allein deshalb etwas anderes, weil dies auch mit "sich dem Gesetz entziehen" übersetzt werden kann. Vielmehr unterstellen die weiteren Übersetzungsvarianten "flüchten", "aus dem Staub machen", "entfliehen" und "türmen" ebenfalls die Erforderlichkeit eines aktiven Entziehens.

Dieses Ergebnis folgt zudem aus der Art. 29 Dublin III-VO immanenten Sphärentheorie. Schließlich streitet auch ein Vergleich mit anderen unionsrechtlichen Vorschriften für das gefundene Ergebnis. In Art. 28 Abs. 1, UAbs 2 lit. a RL 2013/32/EU knüpft der Unionsgesetzgeber an einen Verstoß gegen Mitwirkungspflichten - d.h. ein Unterlassen - an, während lit. b an ein aktives Handeln anknüpft. Wäre insoweit eine Verlängerung der Überstellungsfrist auch für Fälle des bloßen Nichtbefolgens von Mitwirkungspflichten beabsichtigt, so wäre zu erwarten gewesen, dass eine Art. 28 Abs. 1, UAbs 2 lit. a RL 2013/32/EU vergleichbare Regelung getroffen worden wäre (vgl. zum Vorstehenden insgesamt statt aller Brauer, ZAR 2019, S. 256 <259 ff.>). [...]