LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 09.10.2019 - L 4 SO 160/19 B ER - asyl.net: M28048
https://www.asyl.net/rsdb/M28048
Leitsatz:

Feststellung des Verlust des Freizügigkeitsrechts steht einer erneuten Entstehung der Leistungsberechtigung nicht entgegen:

"1. Werden zeitlich nach Erlass einer Verlustfeststellung gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU die Voraussetzungen eines Freizügigkeitstatbestandes neu verwirklicht, so erledigt sich die Verlustfeststellung mit Wirkung für die Zukunft auf andere Weise als durch Zeitablauf i.S.d. § 43 Abs. 2 HVwVfG.

2. Ungeachtet dessen verpflichten die Leistungsausschlüsse des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII - anders als § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII - die Sozialbehörden wie die Sozialgerichte im Bereich der Freizügig­keit der Unionsbürger zu einer materiellen Betrachtungsweise. Dies begrenzte die Tatbestandswirkung einer Verlustfeststellung im Falle eines später entstandenen Aufenthaltsrechts, sofern man nicht von einer Erledigung ausginge.

3. Mit der Struktur des Arbeitnehmerbegriffes in Art. 45 AEUV, Art. 7 Abs. 1 lit. a) RL 2004/28/EG und § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist die Suche nach festen Untergrenzen der Entlohnung oder Arbeitsstundenzahl unvereinbar"

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Unionsbürger, Sozialrecht, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Entzug des Freizügigkeitsrechts, Erledigung, Arbeitnehmerbegriff, Leistungsausschluss, Sozialleistungen, EU-Staatsangehörige, Änderung der Sachlage, Arbeitnehmer, Wanderarbeitnehmer, selbständige Erwerbstätigkeit, Ehegatte,
Normen: SGB XII § 23 Abs. 3 Nr. 7, SGB II § 7
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller hat nach wie vor seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Allein der Erlass einer Verlustfeststellung beendet nicht die Zukunftsoffenheit des Aufenthalts. Die Verfügung der Ausländerbehörde des Antragsgegners vom 31. August 2017 sieht eine Ausreiseverpflichtung erst zwei Monate nach Bestandskraft der jeweiligen Verfügung vor. Der Sofortvollzug wurde nicht angeordnet. Es besteht daher im vorliegenden Fall nach Klageerhebung beim Verwaltungsgericht derzeit keine Ausreisepflicht des Antragstellers. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller in absehbarer Zeit die Bundesrepublik Deutschland wieder verlassen will. Ergänzend nimmt der Senat Bezug auf die entsprechenden Ausführungen im Beschluss des 9. Senats des Hessischen Landessozialgericht vom 10. Juli 2018 – L 9 AS 142/18 B ER –, juris Rn. 11-13. [...]

Jedoch ist der Antragsteller im streitgegenständlichen Zeitraum aufgrund der Arbeitnehmereigenschaft seiner Ehefrau nach § 3 i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 genannten Unionsbürger – nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU: Arbeitnehmer – das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist Familienangehöriger u.a. der Ehegatte. Diese Freizügigkeitsberechtigung steht einem Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII entgegen. [...]

Dem Entstehen der Freizügigkeitsberechtigung jedenfalls seit 10. Juni 2019 nach § 3 FreizügG/EU steht die Verlustfeststellung der Ausländerbehörde vom 31. August 2017 nicht entgegen. Erstens hat sich die Verlustfeststellung mit dem nach ihrem Erlass kraft Gesetzes verwirklichten neuen Freizügigkeitstatbestand nach § 3 FreizügG/EU im Sinne des § 43 Abs. 2 Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz (HVwVfG) auf andere Weise als durch Zeitablauf jedenfalls mit Wirkung ex nunc erledigt. Selbst wenn man dieser Rechtsauffassung nicht folgen wollte, ist zweitens nach dem SGB XII – wie auch bei den Leistungsausschlüssen des SGB II – eine eigenständige materielle Prüfung geboten, in der jedenfalls Umstände, die eine materielle Freizügigkeitsberechtigung verwirklichen und die zeitlich nach Erlass der Verlustfeststellung eintreten, trotz der Rechtswirkungen einer Verlustfeststellung berücksichtigt werden müssen. [...]

Diese Erledigung des Verwaltungsakts auf andere Weise als durch Zeitablauf nach § 43 Abs. 2 HVwVfG tritt allerdings nur vom Zeitpunkt des Entstehens der Freizügigkeit für die Zukunft ein, denn die Verlustfeststellung soll nach dem Gesetz für die Vergangenheit weiterhin belastende Rechtswirkungen entfalten, etwa im Hinblick auf die Folgen für die Daueraufenthaltsberechtigung nach § 4a FreizügG/EU (siehe Sächsisches OVG, Urteil vom 25. Oktober 2018 – 3 A 736/16 –, juris Rn. 23) oder – wie oben dargestellt – im Rahmen des § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII. [...]

Ungeachtet dessen verpflichten die Leistungsausschlüsse des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII die Sozialbehörden wie die Sozialgerichte im Bereich der Freizügigkeit der Unionsbürger zu einer materiellen Betrachtungsweise. Die Regelungen in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII stellen nicht auf eine Freizügigkeitsberechtigung als solche ab, sondern vorrangig auf deren materiellen Grund; daher ist eine Prüfung aller in Betracht kommenden Aufenthaltsrechtstatbestände notwendig. Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die Feststellung, "kein Aufenthaltsrecht" zu haben, und die notwendige positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" i.S.d. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R, SGb 2013, 603, Rn. 23; BSG, Urteil vom 13. Juli 2017– B 4 AS 17/16 R, SozR 4-4200 § 7 Nr. 54, Rn. 18). [...]

Diese Rechtsauffassung setzt sich nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung zur Tatbestandswirkung von Aufenthaltserlaubnissen (z.B. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2014 – B 14 AS 8/13 R –, juris Rn. 12). Denn soweit nach materiellem Sozialrecht ein bestimmter Aufenthaltstitel erforderlich ist, beruht dieses Erfordernis eines Titels auf dem Zusammenwirken von Sozial- und Aufenthaltsrecht: Soweit es dazu auf den "Besitz" eines bestimmten Aufenthaltstitels ankommt (z.B. § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG) oder darauf, dass ein entsprechender Aufenthaltstitel "erteilt worden ist" (vgl. § 1 Abs. 2 AsylbLG), ist für zusätzliche Entscheidungen der Leistungsträger zum Aufenthaltsgesetz (AufenthG) schon sprachlich kein Raum. [...]

Da nach hier vertretener Auslegung der § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII die Tatbestandswirkung der Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU für sozialhilferechtliche Rechtsfolgen bereits gesetzlich begrenzt ist, kann der Senat offenlassen, ob die vom 9. Senat des Landessozialgerichts im Beschluss vom 10. Juli 2018 – L 9 AS 142/18 B ER – aus der allgemeinen Dogmatik zur Tatbestandswirkung hergeleiteten Erwägungen ebenfalls durchgreifen. [...]