OLG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 28.08.2019 - 5 UF 97/19 - asyl.net: M28049
https://www.asyl.net/rsdb/M28049
Leitsatz:

Wirksame Eheschließung einer minderjährigen Person:

"Wurde eine Ehe unter Beteiligung eines Minderjährigen, der das 16. Lebensjahr vollendet hatte, im EU-Ausland mit einem gerichtlichen Dispens nach dem dort geltenden Recht (hier: Bulgarien) wirksam geschlossen, so kann die Ehe in Deutschland im Regelfall nicht nach § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB aufgehoben werden, weil die ansonsten verletzten Rechte der Ehegatten auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV und die Rechte auf Arbeitnehmer­freizügigkeit und Aufenthalt nach Art. 45 Abs. lit. b und c AEUV zur Annahme einer schweren Härte i.S.d. § 1315 Abs. 1 Nr. 1b BGB führen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Freizügigkeitsrecht, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Eheschließung, minderjährig, Eheaufhebung, schwere Härte, EU-Staatsangehörige, minderjährig, EU-Mitgliedstaat, Europäische Union, besondere Härte, Wirksamkeit der Eheschließung, wirksame Eheschließung,
Normen: BGB § 1303, AEUV Art. 45, AEUV Art. 21, BGB § 1314 Abs. 1, BGB § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1b, EGBGB Art. 13 Abs. 3 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Nach Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB ist die nach ausländischem Recht wirksam geschlossene Ehe nach deutschem Recht aufhebbar, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. nicht aber das 18. Lebensjahr vollendet hat. Über die Aufhebung ist nach Maßgabe der §§ 1313 ff. BGB zu entscheiden.

Gemäß § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB kann eine Ehe aufgehoben werden, wenn sie entgegen § 1303 Satz 1 BGB mit einem Minderjährigen geschlossen worden ist, der im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr vollendet hatte.

Nach § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b BGB ist jedoch bei Verstoß gegen § 1303 Satz 1 BGB eine Aufhebung der Ehe ausgeschlossen, wenn auf Grund außergewöhnlicher Umstände die Aufhebung der Ehe eine so schwere Härte für den minderjährigen Ehegatten darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 18/12086, S. 15) soll die Aufhebung in den Fällen, in denen der minderjährige Eheschließende das 16. Lebensjahr bei Eheschließung vollendet hatte, den Regelfall darstellen. Zu den Ausnahmefällen, nach § 1315 Abs. 1 Nr. 1 b BGB heißt es in der Gesetzesbegründung (BTDrucksache 18/12086, S. 22):

"… Bei dieser Regelung handelt es sich um eine Härteklausel, die es dem Familiengericht, das über den Aufhebungsantrag zu entscheiden hat, in besonderen Ausnahmefällen ermöglichen soll, zur Wahrung des Kindeswohls von der Aufhebung der Ehe abzusehen. Dabei muss es sich allerdings um gravierende Einzelfälle handeln, in denen die Aufhebung der Ehe eine so schwere Härte für den betroffenen minderjährigen Ehegatten darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe zu seinem Schutz ausnahmsweise geboten erscheint. Zu denken wäre hier beispielsweise an eine schwere und lebensbedrohliche Erkrankung oder eine krankheitsbedingte Suizidgefahr des minderjährigen Ehegatten. Eine außergewöhnliche Härte könnte sich im Einzelfall auch daraus ergeben, dass die Aufhebung einer unter Beteiligung eines Unionsbürgers geschlossenen Ehe dessen Freizügigkeitsrecht verletzen würde …"

Die Regelung des § 1314 BGB räumt dem Gericht kein generelles Ermessen ein, ob es die Ehe aufhebt oder nicht. Aus der Gesetzesbegründung, ergibt sich allerdings, dass nicht nur in den dort erwähnten Fällen der Suizidgefahr oder einer lebensbedrohlichen Erkrankung, sondern auch bei der Verletzung von Freizügigkeitsrechten eine Aufrechterhaltung der Ehe möglich sein soll. Unabhängig davon, ob ein Verstoß gegen die unionsrechtliche Freizügigkeit eine schwere Härte vergleichbar mit den in der Gesetzesbegründung genannten Fällen darstellt, ist der Gesetzesbegründung jedenfalls zu entnehmen, dass über die Regelung des § 1315 Abs. 1 Nr. 1b BGB die Verletzung von Freizügigkeitsrechten der Unionsbürger vermieden werden und eine ohnehin gebotene EU-rechtskonforme Auslegung der Vorschrift gewährleistet sein soll.

Im vorliegenden Fall würde die Aufhebung der Ehe für die Antragsgegner eine Verletzung der nach Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gewährten Freizügigkeit bedeuten. Nach Art. 21 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten. Der Umstand, dass die Ehe eines Unionsbürgers, die nach dem Recht seines Herkunftsstaates wirksam geschlossen wurde, in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund dort geltender nationaler Bestimmungen aufgehoben wird, behindert den Betroffenen in der Ausübung seines nach Art. 21 AEUV verbürgten Rechts. Im Falle der Aufhebung der Ehe würde den Antragsgegnern die Möglichkeit genommen, sich als Ehepartner des jeweils anderen und als mit dem Vater bzw. der Mutter verheirateten Elternteil des gemeinsamen Kindes in Deutschland aufzuhalten. Sofern sie weiterhin als Familie mit verheirateten Eltern und (mit Blick auf das zweite Kind, das die Antragsgegnerin erwartet) ehelich geborenen Kindern, zusammenleben möchten, müssten die Antragsgegner ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland aufgeben, wobei auch dann fraglich ist, ob sie durch einen Umzug einem bereits rechtshängigen Eheaufhebungsverfahren in Deutschland mit der in allen Mitgliedstaaten gemäß der Brüssel-IIa-Verordnung anzuerkennenden Eheaufhebung aufgrund der perpetuatio fori entgehen können.

Die Eheaufhebung beinhaltet daneben auch einen Verstoß gegen das der Antragsgegnerin über die Ehe vermittelte Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit und Aufenthalt gemäß Art. 45 Abs. 3 lit. b und c AEUV (vgl. auch OLG Oldenburg FamRZ 2018, 1152-1153), das ihr als Unverheiratete nicht mehr zustünde. Im Übrigen stellt bereits das dem nach dem Recht seines Herkunftslandes wirksam verheirateten Paar, wenn einer der Ehegatten erst das 16. oder 17. Lebensjahr vollendet hat, in Deutschland drohende gerichtliche Aufhebungsverfahren, das von der Verwaltungsbehörde zwingend zu betreiben ist (Brudermüller in Palandt, BGB, 78. Auflage, § 1316, Rz. 8), einen Verstoß gegen das Freizügigkeitsrecht dar. Denn um ein Eheaufhebungsverfahren zu vermeiden, wären sie gehalten bis zur Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten ihren Aufenthalt jedenfalls nicht in Deutschland zu wählen. [...]