VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.11.2019 - A 11 S 2376/19 - Asylmagazin 4/2020, S. 124 ff. - asyl.net: M28053
https://www.asyl.net/rsdb/M28053
Leitsatz:

Zu den Voraussetzungen der internen Fluchtalternative:

1. Die Niederlassung in einem sicheren Landesteil ist gemäß § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zumutbar, wenn nach umfasender Einzelfallbetrachtung das Existenzminimum unter Berücksichtigung der Gewährleistungen des Art. 3 EMRK, Art. 4 GR-Charta gesichert ist. Zudem dürfen auch keine anderen schwerwiegenden Verletzungen grundlegender Grund- oder Menschenrechte und keine sonstige unerträgliche Härte drohen.

2. Darüber hinausgehende Anforderungen sind nicht zu stellen. Es ist nicht erforderlich, dass Betroffene ein "relativ normales Leben ohne unangemessene Härten" oder ein "relativ normales Leben mit mehr als dem Existenzminimum" führen können, wie es der UNHCR in seinen Richtlinien formuliert. Auch gehört der Bereich der Bildung nicht zu den grundlegenden Dienstleistungen, die in dem entsprechenden Gebiet zur Verfügung stehen müssen. Andernfalls drohen Widersprüche im Verhältnis zum Schutz aus Art. 3 EMRK.

3. Die materielle Beweislast für die Zumutbarkeit der Niederlassung an einem Ort internen Schutzes trägt das BAMF. Kann die Zumutbarkeit nicht positiv festgestellt werden, scheidet interner Schutz aus.

(Leitsätze der Redaktion; die Revision wurde zugelassen)

Schlagwörter: Afghanistan, interne Fluchtalternative, Maßstab, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Existenzminimum, besondere Härte, UNHCR, Beweislast, Existenzgrundlage, Darlegungslast,
Normen: AsylG § 3e Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

b. Die Niederlassung kann i.S.d. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG vernünftigerweise erwartet werden, wenn sie zumutbar ist (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris Rn. 31; vgl., auch zum Folgenden, UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: "Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative" im Zusammenhang mit Artikel 1 A <2> des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, HCR/GIP/03/04, 23.07.2003, Abschn. 22 ff.; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum Seekers from Afghanistan, HCR/EG/AFG/18/02, 30.08.2018, S. 107 ff.; EASO, Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019, S. 131 ff.; siehe auch BVerwG, Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, juris Rn. 12). [...]

(1) Was zumutbar ist, muss unter Berücksichtigung der Zielrichtung des internationalen Schutzes anhand der anwendbaren grund- und menschenrechtlichen Gewährleistungen entschieden werden. Die Niederlassung in einem sicheren Landesteil ist danach zumutbar i.S.d. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wenn bei umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh wahrendes Existenzminimum gesichert ist und auch keine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Grund- oder Menschenrechte oder eine sonstige unerträgliche Härte droht. [...]

(a) Einerseits ist § 3e AsylG deutlich zu entnehmen, dass interner Schutz nicht erst dann ausscheidet, wenn dem Betroffenen eine "schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte" (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder "Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung" (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) droht. [...]

Entscheidend ist, ob die interne Neuansiedlung unter Umständen möglich ist, die nicht in einem Maße schlecht sind, dass der Betroffene keinen anderen Ausweg sieht, als sich in Gebiete zu begeben, in denen ihm Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht. [...]

(b) Welche Gewährleistungen aus den Grund- und Menschenrechten folgen und ob diese einer Niederlassung konkret entgegenstehen, ist jeweils im Einzelfall zu ermitteln.

Besondere Bedeutung hat hierbei die Frage, ob am Ort des internen Schutzes die Existenzsicherung des Betroffenen gewährleistet ist. [...] Interner Schutz scheidet aus, wenn die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK bedeuten würde (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris Rn. 32 und vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 82 ff.; vgl. auch Bay. VGH, Urteil vom 16.07.2019 - 11 B 18.32129 -, juris Rn. 45; Hailbronner, AuslR, 86. Aktualisierung Juni 2014, § 3e AsylG Rn. 12 ff.; Dörig, in: ders. <Hrsg.>, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2018, § 13 Rn. 147 ff.). [...]

Im Einzelfall kann die Niederlassung allerdings aufgrund einer drohenden Verletzung auch anderer Grund- und Menschenrechte unzumutbar sein, wenn diese ein der fehlenden Sicherung des Existenzminimums vergleichbar erhebliches Gewicht erreicht. [...]

(c) Diese Grundsätze schließen nicht aus, dass die Niederlassung in einem anderen Landesteil im Einzelfall ausnahmsweise unzumutbar sein kann, obwohl keine Verletzung von Grund- oder Menschenrechten droht. Bedeutete die Niederlassung für den Betroffenen aus anderen Gründen eine unerträgliche Härte, ist sie ebenfalls unzumutbar. Entscheidend ist auch insofern, ob unter den allgemeinen Gegebenheiten vor Ort und den persönlichen Umständen des Betroffenen eine Niederlassung erwartet werden kann, oder ob unter objektiver Betrachtung damit zu rechnen ist, dass er wegen unerträglicher Umstände den Schutz im sicheren Landesteil nicht in Anspruch nehmen wird.

Das kommt etwa in Betracht, wenn der Betroffene aus kulturellen oder ethnischen Gründen isoliert wäre oder durch die Mehrheitsbevölkerung erheblich diskriminiert würde, sodass ein Leben ohne unerträgliche Härten nicht möglich wäre. Denkbar ist dies auch bei erheblichen psychischen Erkrankungen infolge früherer Verfolgung durch staatliche Akteure, sodass vom Betroffenen nicht verlangt werden kann, sich künftig in den Schutz durch ebenjene Akteure zu begeben (vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: "Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative" im Zusammenhang mit Artikel 1 A <2> des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, HCR/GIP/03/04, 23.07.2003, Abschn. 25 f.; zur Situation religiöser Minderheiten in Afghanistan etwa VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, juris; zur Bedeutung einer nachhaltigen westlichen Prägung siehe Schl.-Holst. OVG, Urteil vom 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 49).

(d) Ob es dem Ausländer zumutbar ist, sich an einem Ort als interne Schutzalternative niederzulassen, bedarf jeweils der Prüfung unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. § 3e Abs. 2 AsylG, Art. 8 Abs. 2 QRL).

Zu den zu berücksichtigenden Umständen gehören objektive Gesichtspunkte, darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung, und subjektive Umstände, wie etwa Alter, Geschlecht, familiärer und biographischer Hintergrund, Gesundheitszustand, finanzielle Situation bezogen auf Vermögen und Erwerbsmöglichkeiten sowie Leistungen aus Hilfsangeboten für Rückkehrer, Fähigkeiten/Ausbildung/Berufserfahrung, das Vorhandensein von tragfähigen Beziehungen/Netzwerken am Ort des internen Schutzes, Kenntnisse zumindest einer der am Ort des internen Schutzes gesprochenen Sprachen sowie ggf. die Volkszugehörigkeit (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris Rn. 31, und vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 80). [...]

(2) Dieser Maßstab entspricht den Mindestanforderungen, die die relevanten völker- und unionsrechtlichen Institutionen formulieren. [...]

(3) Nicht zu folgen vermag der Senat weitergehenden Auffassungen, die einen Lebensstandard für erforderlich halten, der über einen unabdingbaren Grund- und Menschenrechtsschutz teilweise weit hinausgeht.

Insbesondere der UNHCR (zur Bedeutung der Rechtsauffassung des UNHCR siehe EuGH, Urteil vom 23.05.2019 <Bilali> - C-720/17 -, Rn. 57; BVerfG, Beschlüsse vom 08.12.2014 - 2 BvR 450/11 -, juris Rn. 45, und vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, juris Rn. 38) hält teilweise Gewährleistungen für erforderlich, die zu der vom UNHCR formulierten Beschränkung auf den Schutz der grundlegenden Menschenrechte (s.o.) deutlich kontrastieren. Danach soll es darauf ankommen, ob der Betroffene ein "normales Leben" oder ein "relativ normales Leben ohne unangemessene Härten" oder ein "relativ normales Leben mit mehr als dem Existenzminimum" führen kann (UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: "Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative" im Zusammenhang mit Artikel 1 A <2> des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, HCR/GIP/03/04, 23.07.2003, Abschn. 6, 24, 29). Zudem sollen zu den grundlegenden Dienstleistungen, die im fraglichen Gebiet zur Verfügung stehen müssten, nicht nur solche in Bezug auf Ernährung, Hygiene und Gesundheit gehören, sondern auch solche im Bereich der Bildung ("education", UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum Seekers from Afghanistan, HCR/EG /AFG/18/02, 30.08.2018, S. 109). [...]

Nach dem oben Gesagten ist indes entscheidend, ob im Einzelfall sichergestellt ist, dass der Betroffene nicht aufgrund unzumutbarer Zustände in eine ausweglose Lage gerät, die ihm objektiv keine andere Wahl lässt, als die sichere Aufnahmeregion zu verlassen. Ist dies gewährleistet, verlangt das System des internationalen Schutzes keine weitergehenden Garantien. Andernfalls drohten Widersprüche im Verhältnis zum Schutz aus Art. 3 EMRK. Müssen sich Asylantragsteller, denen am Ort ihrer Herkunft keine relevante Gefahr i.S.d. §§ 3 und 4 AsylG droht, entgegenhalten lassen, keinen Anspruch auf internationalen Schutz zu haben und vor einer Abschiebung auch nicht gemäß Art. 3 EMRK geschützt zu sein, kann für Asylantragsteller aus anderen Landesteilen, in denen eine solche Gefahr herrscht, die Niederlassung an jenem Ort bei im Übrigen vergleichbaren Umständen nicht unzumutbar sein, soweit nicht ausnahmsweise aus anderen Gründen eine unerträgliche Härte droht. Auf eine vergleichende Betrachtung mit anderen Bevölkerungsgruppen oder auf weitergehende humanitäre Anforderungen kann es daher nicht ankommen (vgl. Hailbronner, AuslR, 86. Aktualisierung Juni 2014, § 3e AsylG Rn. 11). [...]

(4) Der Eintritt der tatsächlichen Umstände, die die Niederlassung zumutbar machen, muss hinreichend wahrscheinlich sein. Es ist auf Grundlage verlässlicher Tatsachenfeststellungen eine weitgehend gesicherte Prognose dazu zu treffen, unter welchen tatsächlichen allgemeinen und persönlichen Umständen, die für die Beurteilung der Zumutbarkeit relevant sind, sich der Betroffene am infrage kommenden Ort niederlassen müsste (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 -, juris Rn. 22). Unterschreitungen des Existenzminimums oder andere Verletzungen von Art. 3 EMRK dürfen nicht beachtlich wahrscheinlich ("real risk") sein (vgl. EGMR, Urteil vom 28.06.2011 <Sufi and Elmi v. the United Kingdom> - 8319/07 und 11449/07 -, Rn. 267 und 294).

Die (materielle) Beweislast für die Umstände, die die Niederlassung am Ort des internen Schutzes zumutbar erscheinen lassen, liegt bei der Beklagten. Zwar ist der Schutzsuchende grundsätzlich darlegungs- und beweisbelastet für seine individuellen Umstände, die gegen die Zumutbarkeit sprechen. Die Zumutbarkeit muss jedoch - mit dem beschriebenen Wahrscheinlichkeitsgrad - positiv festgestellt werden können, um den Schutzsuchenden im Einzelfall auf internen Schutz zu verweisen. Gelingt dies nicht, scheidet interner Schutz aus (vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: "Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative" im Zusammenhang mit Artikel 1 A <2> des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, HCR/GIP/03/04, 23.07.2003, Abschn. 34; Dörig, in: ders. <Hrsg.>, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2018, § 13 Rn. 155). [...]