VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Beschluss vom 27.06.2019 - 6 K 565/17.WI - asyl.net: M28057
https://www.asyl.net/rsdb/M28057
Leitsatz:

Vorlagebeschluss an den EuGH:

"1. Es erscheint fraglich, ob das Freizügigkeitsrecht innerhalb der Europäischen Union nicht einer auch nur vorübergehenden Festnahme entgegensteht, wenn der Herkunftsstaat (hier Deutschland) mitgeteilt hat, dass Strafklageverbrauch eingetreten ist.

2. Es ist zweifelhaft, ob Interpol über ein angemessenes Datenschutzniveau im Sinne der Richtlinie (EU) 2016/680 verfügt, welches Voraussetzung für den Datenaustausch mit den Strafverfolgungsbehörden der EU-Staaten ist.

3. Die Richtlinie (EU) 2016/680 regelt nur den Fall der Datenübermittlung an Interpol. Der umgekehrte Fall der Datenübermittlung von Interpol an die Mitgliedstaaten ist in der Richtlinie (EU) 2016/680 nicht geregelt. Damit beinhaltet Richtlinie (EU) 2016/680 eine Regelungslücke, die es zu schließen gilt. Wenn Interpol trotz des Verbots der Doppelbestrafung eine Datenübermittlung der Red Notice an alle Mitgliedstaaten nicht unterlässt und nicht für eine unverzügliche Datenlöschung sorgt, bestehen erhebliche Zweifel an einer datenschutzrechtlichen Zuverlässigkeit der Internationalen Organisation "Interpol"."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Interpol, Unionsbürger, Red Notice, Doppelverfolgung, Festnahmeersuchen, Freizügigkeit, Freizügigkeitsrecht, Vorlagebeschluss, EuGH,
Normen: RL 2016/680/EU
Auszüge:

[...]

Das Verfahren wird gemäß Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung dem Gerichtshof der Europäischen Union hinsichtlich der folgenden Fragen vorgelegt:

a) Ist Art. 54 SDÜ i.V.m. Art. 50 GrCh dahingehend auszulegen, dass bereits die Einleitung eines Strafverfahrens wegen derselben Tat in allen Vertragsstaaten des Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14. Juni 1985 (Schengen-Besitzstand gemäß Artikel 1 Absatz 2 des Beschlusses 1999/435/EG des Rates vom 20. Mai 1999, ABl. Nr. L 239 vom 22. September 2000, S. 13, im Folgenden: SDÜ) untersagt ist, wenn eine deutsche Staatsanwaltschaft ein eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt und insbesondere einen bestimmten, von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat?

b) Folgt aus Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (in der bereinigten Fassung vom 07. Juni 2016, ABl. Nr. C 202 S. 1, 47; im Folgenden: AEUV) ein Verbot an die Mitgliedstaaten, Festnahmeersuchen von Drittstaaten im Rahmen einer Internationalen Organisation wie der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation – Interpol –, umzusetzen, wenn der von dem Festnahmeersuchen Betroffene Unionsbürger ist und der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, Bedenken an der Vereinbarkeit des Festnahmeersuchens mit dem Verbot der Doppelbestrafung der Internationalen Organisation und damit auch den übrigen Mitgliedstaaten mitgeteilt hat?

c) Steht Art. 21 Abs. 1 AEUV bereits der Einleitung von Strafverfahren und einer vorübergehenden Festnahme in den Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit der Betroffene nicht besitzt, entgegen, wenn diese im Widerspruch zum Verbot der Doppelbestrafung steht?

d) Sind Art. 4 Abs. 1 lit. a) und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/680 in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 GrCh dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten zum Erlass von Rechtsvorschriften verpflichtet sind, die sicherstellen, dass im Falle eines zum Strafklageverbrauch führenden Verfahrens in allen Vertragsstaaten des Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14. Juni 1985 (ABl. Nr. L 239 vom 22. September 2000, S. 13) eine weitere Verarbeitung von Red Notices der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation – Interpol –, die zu einem weiteren Strafverfahren führen sollen, untersagt ist?

d) Verfügt eine internationale Organisation wie die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation – Interpol – über ein angemessenes Datenschutzniveau, wenn ein Angemessenheitsbeschluss nach Art. 36 Richtlinie (EU) 2016/680 und/oder geeignete Garantien nach Art. 37 Richtlinie (EU) 2016/680 nicht gegeben sind?

e) Dürfen die Mitgliedstaaten Daten, die bei der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation – Interpol – in einem Fahndungszirkular ("Red Notice") von Drittstaaten eingetragen worden sind, nur dann weiter - verarbeiten, wenn ein Drittstaat mit dem Fahndungszirkular ein Festnahme- und Auslieferungsersuchen verbreitet und eine Festnahme beantragt hat, die nicht gegen Europäisches Recht, insbesondere das Verbot der Doppelbestrafung, verstößt?

3. Es wird beantragt, das Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 ff. der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen. [...]