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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 19.11.2019 - 1 C 22.18 - asyl.net: M28064
https://www.asyl.net/rsdb/M28064
Leitsatz:

Ausschluss der Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG für Schengen-Visa:

1. Die Regelungen zur Fiktionswirkung eines Antrages auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG stehen in einem sich ausschließenden Alternativverhältnis.

2. Auch von anderen Schengen-Staaten ausgestellte Schengen-Visa (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) sind Aufenthaltstitel im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG, für die die Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ausgeschlossen ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Schengen-Visum, Familiennachzug, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Antrag, Fiktionswirkung, Fiktionsbescheinigung,
Normen: AufenthG § 81 Abs. 3, AufenthG § 81 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

2.1. Der Verwaltungsgerichtshof ist zwar zunächst im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass für die Anwendung der Absätze 3 und 4 des § 81 AufenthG entscheidend darauf abzustellen ist, ob die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts durch den Besitz eines Aufenthaltstitels oder durch einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet ohne Aufenthaltstitel vermittelt wird. Denn die Absätze 3 und 4 des § 81 AufenthG, die die Wirkungen eines Antrages auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels regeln, stehen in einem sich ausschließenden Alternativverhältnis. Gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gilt der Aufenthalt derjenigen Ausländer, die sich rechtmäßig ohne Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, nach der Antragstellung bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt und bei verspäteter Antragstellung nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als geduldet. Ihr Aufenthaltsstatus wird als weiterbestehend fingiert, bis die Ausländerbehörde über ihren Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels entschieden hat (Erlaubnisfiktion). Von der Regelung des § 81 Abs. 4 AufenthG werden Ausländer erfasst, die sich bereits mit einem Aufenthaltstitel rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. In diesen Fällen gilt der Aufenthaltstitel bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über den Erteilungs- oder Verlängerungsantrag als fortbestehend (Fortgeltungsfiktion). Mit der Fortgeltungsfiktion in § 81 Abs. 4 AufenthG hat der Gesetzgeber ein neues Rechtsinstitut geschaffen, das über eine bloße Erlaubnisfiktion hinausgeht. Mit der fingierten Fortgeltung des bisherigen Titels wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz gleichzeitig auch den Zugang zum Arbeitsmarkt regeln, und erreicht, dass die Beschäftigung bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde im bisherigen Umfang erlaubt bleibt (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 96). § 81 Abs. 4 AufenthG entfaltet mithin nicht nur verfahrensrechtliche Wirkungen, ohne allein deswegen konstitutiv einen auch materiell rechtmäßigen Aufenthalt zu bewirken oder zu einem "Besitz" eines Aufenthaltstitels zu führen (BVerwG, Urteil vom 30. März 2010 - 1 C 6.09 - BVerwGE 136, 211 <217 f.>).

2.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat jedoch rechtsfehlerhaft angenommen, dass die von anderen Schengen-Staaten erteilten Schengen-Visa keine Aufenthaltstitel im Sinne des § 81 Abs. 3 AufenthG sind und der in § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG geregelte Ausschluss der Fortgeltungsfiktion nicht auf von anderen Schengen-Staaten erteilte Schengen-Visa anwendbar ist.

2.2.1. Nach dem Wortlaut des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG knüpft die Fiktionswirkung an den Besitz eines Aufenthaltstitels im Sinne des Aufenthaltsgesetzes an. Fiktionsfähig nach dieser Bestimmung sind mithin grundsätzlich alle in § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG genannten Aufenthaltstitel. Hierzu zählt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG auch ein Schengen-Visum; dass dessen Erteilungsvoraussetzungen, Inhalt und Dauer unionsrechtlich abschließend geregelt sind, sperrt nicht dessen Einordnung als nationaler Aufenthaltstitel für unionsrechtlich nicht geregelte Fragen des nationalen Rechts. § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG bestimmt indes einschränkend, dass die Fortgeltungsfiktion nicht für ein "Visum nach § 6 Absatz 1" AufenthG - also insbesondere ein Schengen-Visum nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG - gilt. Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG auf von deutschen Behörden ausgestellte Schengen-Visa lässt sich mit dem Wortlaut und der Systematik dieser Bestimmungen nicht vereinbaren. Denn die in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG unter Verweis auf § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannten Schengen-Visa werden nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. L 243 S. 1), zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1155 vom 20. Juni 2019 (ABl. L 188 S. 25), erteilt, also nach dem einheitlichen, in allen Schengen-Staaten gleich anwendbarem Regime des Schengen-Rechts. Diese Verordnung regelt die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittausländern, die sich nicht länger als drei Monate im Schengen-Gebiet aufhalten wollen. Zu diesem Zweck wird dem Drittausländer von den Mitgliedstaaten ein für das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gültiges einheitliches Visum (Art. 2 Nr. 3, Art. 24 Visakodex), das sogenannte Schengen-Visum, erteilt. Inhaber eines solchen Visums können sich während dessen Gültigkeitszeitraums frei in dem Hoheitsgebiet aller Schengen-Staaten bewegen (Art. 19 SDÜ).

Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs, dass nur ein von einer deutschen Auslandsvertretung erteiltes Schengen-Visum ein Aufenthaltstitel im Sinne des § 81 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sein könne, ist mit der europarechtlichen Konstruktion des Schengen-Visums und der Systematik des Aufenthaltsgesetzes, nach der ein Schengen-Visum nach nationalem Recht einen Aufenthaltstitel (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 69) darstellt, nicht zu vereinbaren. Dass es kein "deutsches Schengen-Visum" im Sinne der vom Verwaltungsgerichtshof vorgenommenen Auslegung gibt, wird zudem dadurch bestätigt, dass nach Art. 33 Abs. 1, 4 Visakodex auch ein von einem anderen Schengen-Staat erteiltes Visum durch denjenigen Vertragsstaat verlängert werden kann, in dessen Hoheitsgebiet sich der Drittstaatsangehörige zum Zeitpunkt der Beantragung der Verlängerung aufhält. Umgekehrt unterstreicht die Regelung des Art. 34 Visakodex zur Annullierung und Aufhebung eines Schengen-Visums, dass das durch ein nicht annulliertes oder aufgehobenes Schengen-Visum unionsrechtlich vermittelte Einreise- und Aufenthaltsrecht nicht - wie bei der durch Art. 21 SDÜ bei einem durch einen anderen Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitel unter bestimmten Voraussetzungen vermittelten Bewegungsfreiheit - die (fortdauernde) materielle Rechtmäßigkeit voraussetzt (zur materiellen Rechtmäßigkeit von Einreise und Aufenthalt auf der Grundlage des Art. 21 SDÜ als Voraussetzungen der Anwendung des § 81 Abs. 3 AufenthG s. OVG Hamburg, Beschluss vom 1. Juni 2018 - 1 Bs 126/17 - InfAuslR 2018, 400; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Februar 2019 - OVG 11 S 21.18 - juris; s.a. VGH Kassel, Beschluss vom 4. Juni 2014 - 3 B 785/14 - InfAuslR 2014, 435). [...]