VG Magdeburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 28.01.2020 - 6 A 40/19 MD - asyl.net: M28077
https://www.asyl.net/rsdb/M28077
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Nigeria wegen Zwangsprostitution:

Eine Frau, die in Nigeria Opfer des organisierten Menschenhandels zum Zwecke sexueller Ausbeutung wurde, ist als GFK-Flüchtling anzuerkennen. Ihr droht Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Bei einer Rückkehr nach Nigeria drohen ihr Vergeltungsmaßnahmen durch ihr soziales Umfeld und sie läuft Gefahr, erneut Opfer des Menschenhandels zu werden. Der nigerianische Staat ist nicht in der Lage, sie davor zu schützen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nigeria, Zwangsprostitution, soziale Gruppe, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Schutzfähigkeit, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3d,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. AsylG, da sie Opfer organisierten Menschenhandels wurde, im Falle der Rückkehr Gefahr läuft, erneut Opfer des Menschenhandels zu werden und nicht auf staatlichen oder familiären Schutz zurückgreifen kann. [...]

Gemessen an diesen Maßstäben hat die Klägerin glaubhaft gemacht, dass sie vorverfolgt ausgereist ist und ihr wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, vor der er nigerianische Staat sie nicht wirksam schützen kann, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle der Rückkehr nach Nigeria erneut Verfolgungsmaßnahmen drohen, die auch nicht durch Umzug in einen anderen Teil Nigerias ausgeschlossen werden können. [...]

Die Klägerin ist vorverfolgt ausgereist, weil sie Opfer organisierten Menschenhandels zum Zwecke sexueller Ausbeutung wurde. Die Anwerbung und Ausbeutung zum Zwecke der Zwangsprostitution kann eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 Abs. 1 Asylbegehren darstellen, die an den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpft. Wie in den Urteilen des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 04.04.2016 - A 7 K 3376/14 - und vom 27.09.2019 - A 7 K 2540/17 -, die von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vorgelegt wurden, ausgeführt wird, ist die "Verbringung junger, teilweise sogar minderjähriger Frauen und Mädchen nach Europa und deren dortige sexueller Ausbeutung als Zwangsprostituierte ... ein Bereich der organisierten Kriminalität, der sich in Nigeria ethnisch und geographisch weitestgehend auf die in Edo State gelegene Stadt Benin City und deren Umland eingrenzen lässt und nahezu ausschließlich - in Nigeria und Europa - von Frauen, den sog. "Madames" beherrscht wird. Dabei werden die Opfer zumeist über den Charakter ihrer tatsächlichen Betätigung sowie über die nahezu vollständige Einbehaltung ihrer Einnahmen getäuscht und unter dem Vorzeichen nach Europa geschickt, dort für ihre in Nigeria verbliebene Familie gutes Geld verdienen zu können. [...]

In den genannten Urteilen wird weiterhin ausgeführt, dass rückgeführte Opfer von Menschenhändlern Diskriminierungen durch die Familie und das soziale Umfeld sowie Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt sind und zudem Gefahr laufen können, erneut Opfer an Menschenhandel zu werden. Es handelt sich um eine nach außen von der Gesellschaft wahrnehmbare und ausgegrenzte Gruppe (so auch VG Würzburg, Urteil vom 1.12.2018 - W 10 K 18.31682 -, juris). Der nigerianische Staat ist nicht in der Lage, Schutz vor dieser durch nichtstaatliche Akteure drohenden Verfolgung zu bieten. Diese Einschätzung wird vom erkennenden Gericht geteilt. [...]

Darüber hinaus ist es aus Sicht es erkennenden Gerichts unzweifelhaft, dass die Menschenhändler und ihre Netzwerke in der Lage sind, Armut und Ungebildetheit ihrer Opfer und der Familienangehörigen ihrer Opfer für ihre Machenschaften auszunutzen und ihren Forderungen durch psychischen Druck bzw. Gewaltanwendung nachhaltig Ausdruck zu verleihen.

Für die Klägerin besteht mangels hinreichender Maßnahmen der Regierung Nigerias und mangels Schutzfähigkeit  bzw. -willigkeit der Familienangehörigen kein zumutbarer interner Schutz im Sinne des § 3d AsylG. Wie das Auswärtige Amt im Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 16.01.2020 ausführt, bleibt der organisierte Menschenhandel eines der dringlichsten menschenrechtlichen Probleme. Die Behörde NAPTIP (National Agency for the Prohibition of Trafficking in Persons) hat bis Ende 2018 die Verurteilung von 388 Schleppern erreicht sowie 13.533 Opfer von Menschenhandel unterstützt. Darüber hinaus hat Edo State 2018 ein Gesetz gegen den Menschenhandel verabschiedet, das höhere Strafen für Schleuser vorsieht. Diese Maßnahmen sind jedoch nicht geeignet, Opfer von Menschenhändlern zu schützen, die sich - wie die Klägerin - in einer speziellen risikoerhöhenden Lage befinden. Risikoerhöhende Faktoren sind beispielsweise mangelnde Bildung, Armut, mangelnder familiärer Rückhalt, Nachstellungen gegenüber Familienangehörigen und das Vorliegen posttraumatischer Belastungsstörungen. Diese Aspekte liegen allesamt m Fall der Klägerin vor. [...]