SG Osnabrück

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Zitieren als:
SG Osnabrück, Beschluss vom 27.01.2020 - S 44 AY 76/19 ER - asyl.net: M28082
https://www.asyl.net/rsdb/M28082
Leitsatz:

1. Die Leistungskürzung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG nach Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (Abweisung eines Asylantrags als unzulässig, wegen Zuständigkeit eines anderen Staats für die Durchführung des Asylverfahrens) ist dem Grunde nach nicht verfassungswidrig.

2. Eine Übertragung der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zum fehlenden Nachweis der Eignung höherer Sanktionen zum Zweck der Wiedereingliederung in Arbeit im SGB II in seiner Entscheidung vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) auf § 1a AsylbLG ist in der aktuellen Lage nicht möglich.

3. § 1a Abs. 7 AsylbLG kann wegen seines klaren Wortlauts nicht verfassungskonform ausgelegt werden. Die Übergangsregelung des BVerfG zum SGB II (1 BvL 7/16) kann nicht analog angewandt werden. Eine Erstreckung der Gesetzeskraft der Entscheidung des BVerfG (1 BvL 7/16) auf § 1a AsylbLG ist nicht möglich. Auch eine teleologische Reduktion des § 1a AsylbLG scheidet aus.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Sozialrecht, Dublinverfahren, Leistungskürzung, Anspruchseinschränkung, Asylbewerberleistungsgesetz, Verfassungsmäßigkeit, Existenzminimum, Analogie, Auslegung,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 7
Auszüge:

[...]

31 Nach Ansicht der Kammer ist es nicht grundsätzlich verfassungswidrig, Anreize zur (freiwilligen) Ausreise auch während des noch laufenden Klageverfahrens vor dem Verwaltungsgericht zu setzen (SG Osnabrück, Beschluss vom 03.12.2019, S 44 AY 62/19 ER; SG Osnabrück, Beschluss vom 13.01.2019, S 44 AY 64/19 ER). Eine unterlassene freiwillige Ausreise stellt zwar nach bisheriger Rechtsprechung des BSG kein rechtsmissbräuchliches Verhalten i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG dar (dazu: BSG, Urteil vom 17.06.2008, B 8/9b AY 1/07 R, Rn. 35). Der Gesetzgeber ist aber grundsätzlich frei darin, dies zukünftig anders zu bewerten. Dabei hat er nur die Grenzen der Verfassung zu beachten, hier insbesondere das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

32 Diese Überlegungen sind nach Ansicht der Kammer mit der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10 u.a.) vereinbar. Nach dieser Entscheidung können migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10, Rn. 95). In der zitierten Entscheidung ging es um die allgemeine Bemessung des Regelbedarfs. Nur für diesen Bereich sind diese Aussagen des Bundesverfassungsgerichts nach Ansicht der Kammer entscheidend. Bei der Leistungsgewährung unter Berücksichtigung einer Leistungskürzung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG handelt es sich aber gerade nicht um eine regelhafte Leistungsgewährung nach § 3 AsylbLG. Die Regelsätze werden also nicht allgemein niedrig gehalten, um Wanderbewegungen zu verhindern, sondern es wird auf eine bestimmte Situation reagiert. Dabei hat die Vorschrift sicherlich die Verhinderung und Minimierung von Sekundärmigration im Blick. Ein Gegensteuern gegen Sekundärmigration, also eine leistungsrechtliche Flankierung der ausländerrechtlichen Regelungen und der daraus resultierenden Entscheidung, hält die Kammer – zumindest bei einem vorwerfbaren Verhalten des Leistungsempfängers – aber für verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen.

33 Dem Antragsteller wäre es nach Ansicht der Kammer möglich und zumutbar, nach Frankreich zurückzukehren. Insoweit ist – im Gegensatz zur Lage in Griechenland – auch kein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu befürchten (dazu: SG Osnabrück, Beschluss vom 03.12.2019, S 44 AY 62/19 ER). Die fehlende Ausreise ist dem Antragsteller auch grundsätzlich vorwerfbar. [...]

35 b) Ein anderes Ergebnis ergibt sich nicht aus der Entscheidung des BVerfG vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16).

36 Mit der zitierten Entscheidung (Urteil vom 05.11.2019, 1 BvL 7/16) hat das BVerfG die Vorschriften des SGB II, die für Personen nach Vollendung des 25. Lebensjahres Sanktionen in Höhe von mehr als 30 % des Regelsatzes anordneten (§ 31a Abs. 1 Satz 3 und 4 SGB II), für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Diese Entscheidung kann das Gericht wegen des Verwerfungsmonopols des Art. 100 GG nicht auf § 1a AsylbLG übertragen. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 1a AsylbLG scheitert am eindeutigen Wortlaut der Vorschrift (dazu unter aa). Eine anderweitige Übertragung der verfassungsrechtlichen Wertungen des BVerfG ist ebenfalls nicht möglich. Eine analoge Anwendung der vom BVerfG angeordneten Übergangsregelung scheidet ebenso aus, wie eine Erweiterung der Wirkungen der Entscheidung des BVerfG nach § 31 Abs. 2 BVerfGG auf den vorliegenden Fall. Auch eine teleologische Reduktion des § 1a AsylbLG ist nicht möglich (zu alledem unter bb). Dementsprechend muss die Kammer nicht entscheiden, ob die vorliegende Sanktionierung mit den Ausführungen des BVerfG zum fehlenden Nachweis der Eignung hoher Sanktionen (BVerfG, Urteil vom 05.11.2019, 1 BvL 7/16, Rn. 200, 205 f.) in Einklang zu bringen ist.

37 aa) Einer verfassungskonformen Auslegung steht der eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegen.

38 Da es sich auch bei der verfassungskonformen Auslegung um eine Auslegung handelt, muss der mögliche Wortsinn hier die Grenze sein (ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, 161; zur Auslegung allgemein: Larenz/Canaris, 163 f.; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, 39; zur verfassungskonformen Auslegung des § 31a SGB II in vergleichbarem Zusammenhang: Greiser/Šušnjar in: NJW 2019, 3683, 3686). [...]

40 Ein solch eindeutiger Wortlaut liegt hier vor. Die Vorschrift ist, was die Höhe der Kürzung angeht, einer Auslegung nicht zugänglich.

41 bb) Auch darüber hinaus ist eine Übertragung der Entscheidung des BVerfG vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) auf den vorliegenden Fall nicht möglich.

42 Weder eine analoge Anwendung der Übergangsregelung des BVerfG, noch eine erweiternde Auslegung des § 31 Abs. 2 BVerfGG, noch eine teleologische Reduktion des § 1a Abs. 1 AsylbLG lassen sich nach Ansicht der Kammer methodengerecht begründen.

43 (1) Eine Analogie zur Übergangsregelung des BVerfG in seiner Entscheidung 1 BvL 7/16 scheidet aus.

44 Dies ergibt sich aus allgemeinen Erwägungen. Der Tenor der Entscheidung des BVerfG hat nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft. Dementsprechend kann er wohl auch wie ein Gesetz ausgelegt werden. Das bedeutet aber nicht, dass auch eine Rechtsfortbildung in Anlehnung an den Tenor der Entscheidung möglich ist. Die Entscheidung wird nicht zum Gesetz, sondern sie erlangt Gesetzeskraft. Eine Ausweitung der Anwendbarkeit der Übergangsregelung stellt damit keine Frage der Rechtsfortbildung im Hinblick auf den Tenor der Entscheidung, sondern eine Frage der Bindungs- und Gesetzeskraftwirkung der Entscheidung selbst dar (insoweit offen gelassen: Greiser/Šušnjar in: NJW 2019, 3683, 3686). Unter diesem Punkt, der Gesetzeskraftwirkung, wird dementsprechend eine Erweiterung der Wirkungen derartiger Entscheidungen auch in der Literatur diskutiert (siehe dazu etwa: Baethke in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Baethke, BVerfGG, § 31, Rn. 162 ff., Stand: 02/2019).

45 (2) Eine Erweiterung der Gesetzeskraftwirkung der Entscheidung des BVerfG auf den vorliegenden Fall scheidet aus.

46 Dabei ist zu berücksichtigen, dass das BVerfG die Vorlagefrage nach § 78 Satz 2 BVerfGG auf weitere Vorschriften des gleichen Gesetzes erweitern kann. Diese Möglichkeit besteht nach Ansicht des BVerfG auch für inhaltsgleiche Vorschriften eines anderen Gesetzes des gleichen Normgebers (BVerfG, Beschluss vom 12.03.1996, 1 BvR 609/90, Rn. 66; offen gelassen: Baethke, a.a.O.; Rn. 164). Eine solche Erweiterung hat das BVerfG für § 1a AsylbLG in der relevanten Entscheidung aber nicht vorgenommen. Danach scheidet eine direkte (originäre) Anwendung der Gesetzeskraftwirkung des § 31 Abs. 2 BVerfGG aus. [...]

48 (3) Auch eine teleologische Reduktion kommt nicht in Betracht.

49 Eine solche darf nicht dazu führen, dass die eigentlich angeordnete Rechtsfolge in keinem Fall mehr zur Geltung kommt (dazu zum SGB II: Greiser/Šušnjar in: NJW 2019, 3683, 3687). Würde die Rechtsfolge des § 1a AsylbLG etwa stets auf eine Sanktion in Höhe von 30% reduziert (oder ganz aufgehoben), bliebe für die eigentlich angeordnete Rechtsfolge kein Anwendungsfall. Damit handelt es sich nicht um eine Reduktion des Anwendungsbereichs, sondern um die Schaffung einer neuen oder die Abschaffung der Vorschrift. Dies ist von der Argumentationsfigur der teleologischen Reduktion nicht gedeckt. [...]