Rückkehrer*innen sind in Afghanistan keine soziale Gruppe:
"1. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Rückkehrer – d.h. der Umstand, eine längere oder kürzere Zeit im Ausland gelebt zu haben – mag mit Nachteilen verbunden sein sowohl hinsichtlich der Sicherheitslage als auch hinsichtlich der humanitären Lage des Einzelnen in Afghanistan. Doch ist der Umstand, im Ausland gelebt zu haben, nur einer von vielen, der bei der prognostischen Einschätzung einer Gefährdung in Afghanistan zu berücksichtigen ist und tendenziell risikoerhöhend wirkt.
2. Der Gruppe der Rückkehrer fehlt eine deutlich abgegrenzte Identität, nach der sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet würden. Aus Sicht der afghanischen Gesellschaft bilden sie keinen eigenen ausgrenzbaren Fremdkörper.
3. Um die Tatbestandsvoraussetzung eines Verfolgungsgrundes, auf dem die Verfolgung beruht, nicht leerlaufen zu lassen, kann die bestimmte sozialen Gruppe nicht unter Rückgriff darauf definiert werden, ob eine Verfolgung droht.
4. Der Beweisantrag der darauf abzielt, die Risikobewertung für die Untergruppe der Rückkehrer, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten haben und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, in die Hand eines Sachverständigen zu legen, ist abzulehnen. Diese Beurteilung muss beim Gericht verbleiben."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
18 (2) Die Gruppe der nach Afghanistan Rückkehrenden bildet nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG keine bestimmte soziale Gruppe.
19 Es findet eine starke Remigration nach Afghanistan statt. Ausgehend vom Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (v. 2.9.2019, Stand: Juli 2019, S. 30) sind die Zahlen der Rückkehrer aus Iran auf hohem Stand (2017: 464.000; 2018: 775.000), während ein deutliches Nachlassen an Rückkehrern aus Pakistan zu verzeichnen ist (2017: 154.000; 2018: 46.000). Zu den Rückkehrern aus den Nachbarländern kommen Remigranten aus dem westlichen Ausland, darunter sowohl freiwillige als auch abgeschobene. Neben Deutschland schieben nach dem Bericht (S. 32) Australien, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Norwegen, Schweden, die Schweiz sowie weitere europäische Länder abgelehnte Asylbewerber afghanischer Herkunft nach Afghanistan ab. Hinzu kommt eine große Zahl an Binnenflüchtlingen.
20 Das Feld der Rückkehrer nach Afghanistan ist so vielfältig wie es die Einwohner dieses Landes allgemein sind. Afghanistan ist nach dem benannten Bericht ein Vielvölkerstaat (S. 10). Die Bürger gehören ethnisch (Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken u.v.a.), sprachlich (Dari, Paschtu u.v.a.) und konfessionell (Sunniten, Schiiten, in geringstem Umfang Nichtmuslime) verschiedenen Gruppen an. Die ethnische, sprachliche oder konfessionelle Gruppenzugehörigkeit verläuft aber quer zur Zugehörigkeit zur Gruppe der Rückkehrer.
21 Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Rückkehrer – d.h. der Umstand, eine längere oder kürzere Zeit im Ausland gelebt zu haben – mag mit Nachteilen verbunden sein sowohl hinsichtlich der Sicherheitslage als auch hinsichtlich der humanitären Lage des Einzelnen. Doch ist der Umstand, im Ausland gelebt zu haben, nur einer von vielen, der bei der prognostischen Einschätzung einer Gefährdung in Afghanistan zu berücksichtigen ist und tendenziell risikoerhöhend wirkt. Es gibt nicht den typischen Rückkehrer (der etwaig gefährdet wäre) im Gegensatz zu dem immer im Land Ansässigen (der etwaig nicht gefährdet wäre). Die Mitglieder der Gruppe der Rückkehrer haben keine angeborenen Merkmale gemein und keinen gemeinsamen unveränderbaren Hintergrund und teilen keine für die Identität oder das Gewissen bedeutsamen unverzichtbaren Merkmale oder Glaubensüberzeugung. Der Gruppe der Rückkehrer fehlt eine deutlich abgegrenzte Identität, nach der sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet würden. Aus Sicht der afghanischen Gesellschaft bilden sie keinen eigenen ausgrenzbaren Fremdkörper. Zunächst sehen die Rückkehrer sich derjenigen schwierigen humanitären Situation ausgesetzt, denen alle Einwohner Afghanistans, einschließlich der in Afghanistan verbliebenen ohne Remigrationshintergrund, ausgesetzt sind. Hinzutreten können spezifische Belastungen, die auf die spezifische Lebensgeschichte des einzelnen Rückkehrers zurückgeführt werden können. Im Einzelfall mag es ankommen auf das Alter bei der Ausreise aus Afghanistan, auf das Alter bei Wiedereinreise, auf die Dauer des Auslandsaufenthalts, auf die in Afghanistan, im persisch- oder paschtusprachigen Ausland oder in einer Exilcommunity erworbene Kenntnis einer Landessprache, auf die Vertrautheit mit den Gepflogenheiten in einem islamistisch geprägten Land, auf die Schul- oder Hochschulbildung, auf Kenntnisse und Fertigkeiten aus einem ausgeübten Beruf, auf vorhandene Finanzmittel, auf eine Gewandtheit in der Ausübung roher Gewalt und insbesondere auf in Afghanistan vorhandene Familie, Netzwerke und Beziehungen. Im Einzelfall mag der Remigrationshintergrund in seiner konkreten Gestalt die Waagschale der Risikobewertung in Richtung auf die Annahme einer Gefahr ausschlagen lassen. Der bloße Umstand des Auslandsaufenthalts vermag dies aber nicht. Die Lebensgeschichten der Rückkehrer sind zu mannigfaltig und verschieden, um eine gleichförmige Fortsetzung der Lebensgeschichten in Afghanistan erwarten zu können.
22 (3) Der Untergruppe derjenigen Rückkehrer, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, gehört der Kläger zwar an. Es handelt sich aber ebenso wie bei der Obergruppe der Rückkehrer nicht um eine bestimmte soziale Gruppe. Die Mitglieder der Untergruppe haben keine angeborenen Merkmale gemein und keinen gemeinsamen unveränderbaren Hintergrund und teilen keine für die Identität oder das Gewissen bedeutsamen unverzichtbaren Merkmale oder Glaubensüberzeugung; ihnen fehlt eine deutlich abgegrenzte Identität, nach der sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet würden. Den Mitgliedern der benannten Untergruppe der Rückkehrer kann entgegen der Annahme des Klägers nicht pauschal aufgrund ihrer Einstellungen und ihrer Lebensweise eine deutlich abgegrenzte Identität zugewiesen werden, die von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würde. Dies gilt im Verhältnis sowohl zu den Eingesessenen oder den Binnenflüchtlingen als auch zu den Rückkehrern aus den Nachbarländern und denjenigen ohne vier Jahre Auslandsaufenthalt oder den volljährig emigrierten Rückkehrern. Vielmehr bewegen sich die Rückkehrer, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, innerhalb eines Kontinuums der afghanischen Einwohnerschaft, ohne dass ihnen ohne weiteres bestimmte identitätsstiftende Eigenschaften zugeschrieben würden.
23 (4) Die Untergruppe derjenigen Rückkehrer, die bei Rückkehr verfolgt sind, kann keine bestimmte soziale Gruppe konstituieren. Um die Tatbestandsvoraussetzung eines Verfolgungsgrundes, auf dem die Verfolgung beruht, nicht leerlaufen zu lassen, kann die bestimmte sozialen Gruppe nicht unter Rückgriff darauf definiert werden, ob eine Verfolgung droht. Die bestimmte soziale Gruppe muss zumindest als gedankliches Konstrukt eines Akteurs bestehen, bevor der Akteur wegen der Zugehörigkeit zur bestimmten sozialen Gruppe deren Mitglieder verfolgt. Der Verfolgungsgrund "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" ist kein "Sammelbecken" für alle Personen, die Verfolgung befürchten und darf deshalb nicht so ausgelegt werden, dass die anderen Verfolgungsgründe überflüssig werden (Marx, ZAR 2005, 177, 178). Nur eine an ein bestimmtes asylerhebliches Merkmal – Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – anknüpfende Verfolgung führt zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.
24 bb) Es droht dem Kläger auch keine Verfolgungshandlung als Rückkehrer im Allgemeinen oder im Besonderen als Rückkehrer, der Afghanistan als Minderjähriger verlassen und sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten hat.
25,26 Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten ersten Beweisantrag hat das erkennende Gericht nicht nachgehen müssen. Der Kläger hat insoweit beantragt "ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsachen einzuholen, dass afghanische Staatsangehörige, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten haben und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland beachtlich wahrscheinlich einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sind, da sie aufgrund ihrer Einstellungen und ihrer Lebensweise eine deutlich abgegrenzte Identität haben, die von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet wird und sie aufgrund ihrer Eigenschaft als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland, Opfer von gezielter Gewalt durch die Taliban und/oder krimineller Banden zu werden."
27 Der Beweisantrag hat darauf abgezielt, die Risikobewertung für die Untergruppe der Rückkehrer, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten haben und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, in die Hand eines Sachverständigen zu legen, etwa der Promotionsstudentin Friederike Stahlmann. Diese Beurteilung muss jedoch beim Gericht verbleiben. Zum Beweis können nur Tatsachen gestellt werden. Dies gilt auch für den Sachverständigenbeweis. [...]