Vorlagebeschluss an den Gerichtshof der Europäischen Union zu Fragen des Assoziationsrechts:
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
1. Verlieren Familienangehörige türkischer Arbeitnehmer*innen ihre Rechte aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80, wenn sie die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates unter Verlust der bisherigen Staatsangehörigkeit annehmen?
2. Falls Frage 1 zu bejahen ist: Können Familienangehörige sich in der beschriebenen Situation weiter auf die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 berufen, wenn sie die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates wieder verloren haben, weil sie die vorherige Staatsangehörigkeit wieder angenommen haben?
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
aa) Nationalrechtlich hat die Einbürgerung in Deutschland zur Folge, dass die ihr durch behördliche Entscheidung (Verwaltungsakt) erteilten Aufenthaltserlaubnisse unwirksam wurden. Diese Wirkung wird nach einheitlicher Rechtsprechung (OVG NRW, Beschluss vom 31. Januar 2008, - 18 A 4547/06 -, juris Rn. 24, 28; BVerwG, Urteil vom 19. April 2011, - 1 C 2.10 -, juris Rn. 13 ff.) mit § 43 Abs. 2 letzte Alt. VwVfG NRW (bzw. dessen Entsprechung im Landesrecht anderer Bundesländer und im Bundesrecht) begründet. Durch eine Einbürgerung verlöre der Aufenthaltstitel seine regelnde Wirkung und erlösche, damit erledige sich der Verwaltungsakt "auf andere Weise". Das Regelungsobjekt in ausländerrechtlicher Hinsicht entfalle durch die Einbürgerung, weil der Betroffene kein Ausländer mehr sei und daher keinen Aufenthaltstitel benötige. Ein auf diese Weise obsolet gewordener Aufenthaltstitel könne auch nicht wieder aufleben.
bb) Die erste Vorlagefrage zielt darauf ab, ob eine ähnliche Wirkung der Einbürgerung, sei es Erlöschen, Erledigung oder Unwirksamkeit, auch für von Gesetzes wegen erworbenen Aufenthaltsrechte nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 eintreten kann.Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist der Bestand der Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig (Urteile vom 16. März 2000, - C-329/97 -, Ergat Rn. 42/44; 7. Juli 2005, - C-373/03 -, Aydinli Rn. 25).
Ferner können Familienangehörige diese Rechte nur noch unter zwei Voraussetzungen wieder verlieren: entweder sie verlassen den Aufnahmemitgliedstaat ohne berechtigte Gründe für einen nicht unerheblichen Zeitraum oder sie stellen wegen ihres persönlichen Verhaltens eine tatsächliche, schwerwiegende und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit gemäß Art. 14 ARB 1/80 dar (EuGH, Urteile vom 22. Dezember 2010, - C-303/08 -, Bozkurt Rn. 42; 16. Februar 2006, - C-502/04 -, Torun Rn. 25; 11. November 2004, - C-467/02 -, Cetinkaya, Rn. 36; 7. Juli 2005, - C-373/03 -, Aydinli, Rn. 27).
Die beiden genannten Verlustgründe sind auch abschließend (EuGH, Urteile vom 22. Dezember 2010, - C-303/08 -, Bozkurt, Rn. 43 und 18. Dezember 2008, - C-337/07 -, Altun Rn. 63).
Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin unstreitig nicht vor.
Darüber hinaus hat der Gerichtshof auch entschieden, dass der begünstigte Familienangehörige des türkischen Arbeitnehmers kein türkischer Staatsangehöriger sein muss (EuGH, Urteil vom 19. Juli 2012, - C-451/11 -, juris, Ls Nr. 3) und sich dessen Rechtstellung auch nicht ändert, wenn der Stammberechtigte neben der türkischen Staatsangehörigkeit auch die des Aufnahmemitgliedstaats erwirbt (EuGH, Urteil vom 29. März 2012, - C-7/10 und C-9/10 -, juris Rn. 41 (Kahveci und Inan)).
In der nationalen Rechtsprechung ist die Frage, die vorgelegt wird, umstritten:
Das Verwaltungsgericht Freiburg hat mit Urteil vom 19. Januar 2010 – 3 K 2399/08 -, juris, entschieden, dass Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 durch die Einbürgerung erlöschen. Hierfür sei maßgebend, dass sowohl das Entstehen als auch der Fortbestand dieser Rechte nur unter der Voraussetzung denkbar sei, dass der Betreffende Ausländer sei. Mit der Einbürgerung bedürfe der Begünstigte weder ein assoziationsrechtliches Beschäftigungs- noch ein Bleiberecht. Der Zweck der Assoziationsrechte, zum einen die Verbesserung der beschäftigungsrechtlichen Situation türkischer Arbeitnehmer und zum anderen die Integration ihrer Familienangehöriger im Mitgliedstaat, sei mit der Einbürgerung erreicht.
Dem gegenüber hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 28. Juli 2014 – 19 C 13.2517 –, juris Rz. 5, die Auffassung vertreten, dass viel dafür spreche, dass die Assoziationsberechtigung eines türkischen Staatsangehörigen auch dann noch bestehe, wenn er vorübergehend deutscher Staatsangehöriger gewesen sei. Denn der Gerichtshof habe in seiner Entscheidung vom 29. März 2012 (s.o.) darauf hingewiesen, dass auch Art. 7 ARB 1/80 Teil des Systems zur schrittweisen Integration türkischer Staatsangehöriger im Aufnahmemitgliedstaat sei und die Einbürgerung im Aufnahmemitgliedstaat einen wesentlichen Integrationsschritt darstelle, weswegen sie das Assoziationsrecht nicht beeinträchtigen könne. Diese Argumentation treffe auch hier zu. Es sei daher zweifelhaft, ob ein Aufnahmestaat, der für die Einbürgerung die Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit (auf deren Grundlage das Assoziationsrecht entstanden sei) fordere, nach einem erneuten Wechsel der Staatsangehörigkeit die Assoziationsberechtigung weiter als weggefallen ansehen dürfe, wenn sogar ein Aufnahmestaat, der die Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit nicht fordere und dadurch die Einbürgerung erleichtere, die Assoziationsberechtigung nicht als weggefallen ansehen darf.
Die vorlegende Kammer neigt dazu, wegen der Unterschiede der nationalrechtlichen und europarechtlichen Integrationsmodelle vom Weiterbestehen eines einmal erworbenen Rechts aus Art. 7 ARB 1/80 auch nach Einbürgerung in den Aufnahmemitgliedstaat auszugehen. [...]