VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 24.01.2020 - 25 L 506.19 A - asyl.net: M28120
https://www.asyl.net/rsdb/M28120
Leitsatz:

Gefahr der Folter und Todesstrafe im Irak bei Beteiligung an IS-Verbrechen:

1. Einer Person, die wegen der Mitgliedschaft beim IS und der Tötung einer Person im Irak strafrechtlich verfolgt wird, droht dort die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe sowie Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, auch wenn sie zum Zeitpunkt der Tatbegehung noch minderjährig war. Ihr ist deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuzusprechen.

2. Eine Zusicherung, in der die Vollstreckung der Todesstrafe und Anwendung von Folter nur unter Verweis auf die irakische Gesetzeslage verneint wird, kann diese Gefahr nicht hinreichend entkräften.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Todesstrafe, minderjährig, Kriegsverbrechen, Islamischer Staat, Doppelverfolgung, Folter,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

34 2. Die materiellen Voraussetzungen für den Widerruf des Abschiebungsverbots gemäß § 73c Abs. 2 AsylG liegen nach summarischer Prüfung nicht vor. [...]

35 Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

36 a) Nach summarischer Prüfung ist offen, ob dem Antragsteller im Irak eine Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK in Gestalt der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe droht.

37 Im Hinblick auf die eingetretene Fortentwicklung des Völker- und Unionsrechts ist von einer unmenschlichen Behandlung oder Bestrafung dann auszugehen, wenn die ernsthafte Gefahr eines Vollzugs der Todesstrafe droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 – BVerwG 1 VR 8/17 –, juris Rn. 52).

38 Vorliegend kommt in Betracht, dass dem Antragsteller aufgrund der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe der Mitgliedschaft beim IS und der Beteiligung an der Tötung des ... im Irak die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe droht.

39 Im irakischen Strafrecht ist die Todesstrafe vorgesehen, sie wird auch verhängt und vollstreckt. Sie kann bei 48 verschiedenen Delikten (vorsätzlicher Mord, terroristische Aktivitäten, Hochverrat etc.) verhängt werden. Faktisch erfolgt der Großteil von Hinrichtungen wegen Terrorismusvorwürfen. [...]

40 IS-Verdächtige werden aufgrund der irakischen Anti-Terror-Gesetze rechtlich verfolgt, primär wegen Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung von einer terroristischen Organisation, aber auch wegen Mordes und anderen Handlungen, die unter die Anti-Terror-Gesetzgebung fallen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 20. November 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 30. Oktober 2019, S. 117 ff. m.w.N.). Die Behörden wenden bei der Verfolgung der IS-Verdächtigen wohl fast ausschließlich eine Bestimmung des Anti-Terrorgesetzes, der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation, an. Andere nach dem Anti-Terrorgesetz oder dem Strafrecht strafbare Verbrechen werden offenbar nicht separat angeklagt (vgl. EASO, Iraq Actors of Protection, November 2018, S. 63 m.w.N.; siehe ferner EASO, Targeting of Individuals, März 2019, S. 24 m.w.N.). Das Anti-Terrorgesetz sieht zwei mögliche Strafen vor: die Todesstrafe oder die lebenslange Freiheitsstrafe (vgl. Art. 4 des Anti-Terrorgesetzes), und zwar auch für die bloße Mitgliedschaft beim IS. [...] Die Möglichkeit eines Straferlasses oder einer Begnadigung besteht im Falle der Verurteilung wegen Terrorismus nicht (vgl. Art. 73 [1] der Irakischen Verfassung; UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019, S. 36). [...]

41 Für Personen, die – wie mutmaßlich der Antragsteller zum Zeitpunkt der ihm in dem beim Kammergericht anhängigen Strafverfahren vorgeworfenen Taten in den Jahren 2014 und ggf. 2015 – bei der Tatbegehung noch minderjährig waren, sieht das Irakische Strafgesetzbuch nicht die Verhängung der Todesstrafe vor. Kinder sind im Irak ab sieben Jahren strafmündig (Art. 66 des Irakischen Strafgesetzbuchs). Ist der Minderjährige bei der Tatbegehung bereits sieben, aber unter 15 Jahre alt, wird danach eine Jugendstrafe ("confinement in a reform school") von bis zu fünf Jahren verhängt, wenn die Tat mit der Todesstrafe oder lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist (Art. 66, 72 des Irakischen Strafgesetzbuchs). Ist der Minderjährige bei Tatbegehung zwischen 15 und 18 Jahre alt, soll bei derselben Strafandrohung eine Jugendstrafe ("confinement in a school for young offenders") zwischen zwei und 15 Jahren verhängt werden (Art. 66, 73 Abs. 1 des Irakischen Strafgesetzbuchs). Gegen Personen, die bei der Tatbegehung zwischen 18 und 20 Jahre alt waren, darf die Todesstrafe ebenfalls nicht verhängt werden; in diesem Falle ist anstatt dessen die lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen (Art. 79 des Irakischen Strafgesetzbuchs). Allerdings gibt es Berichte, denen zufolge entgegen dieser gesetzlichen Vorgaben Personen zum Tode verurteilt worden sind, die zum Zeitpunkt der ihnen vorgeworfenen Tat minderjährig waren (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019, S. 35, unter Bezugnahme auf OHCHR, End of visit statement of the Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions on her visit to Iraq, 24. November 2017, bit.ly/2NfKxbN, zuletzt abgerufen am 24. Januar 2020). Darüber hinaus wurde im Jahr 2015 berichtet, dass wegen Terrorismusvorwürfen inhaftierte Kinder bei Vollendung des 18. Lebensjahrs in den Todstrakt verlegt worden seien (vgl. EASO, Targeting of Individuals, März 2019, S. 92 m.w.N.). Der frühere Premierminister Abadi soll angedeutet haben, dass für 16jährige die Verhängung der Todesstrafe in Betracht komme (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019, S. 35 Fn. 212 m.w.N.). Ausweislich des von der Antragsgegnerin im angegriffenen Bescheid in Bezug genommenen Berichts von Amnesty International (Todesstrafe gegen Jugendliche, Stand: 4. Dezember 2018, abrufbar unter www.amnesty-todesstrafe.de/files/reader_todesstrafe-gegen-minderjaehrige.pdf, zuletzt abgerufen am 24. Januar 2020) gehört der Irak allerdings nicht zu den Ländern, aus denen im Zeitraum von 1990 bis 2018 Hinrichtungen minderjähriger Straftäter bekannt geworden sind.

42 Gemessen daran erscheint bei summarischer Prüfung jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass gegen den Antragsteller im Irak die Todesstrafe verhängt und vollstreckt wird. [...]

43 Eine beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse ergibt sich insoweit nicht aus den Angaben in der Verbalnote der Republik Irak vom 21. Oktober 2019. Der möglichen Gefahr der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe wird durch diese nicht hinreichend begegnet. [...]

45 Dass Zusicherungen der Republik Irak aufgrund der dortigen Menschenrechtslage von vornherein unbeachtlich wären, ist weder vom Antragsteller vorgetragen noch sonst hinreichend ersichtlich. Allerdings reicht die Zusicherung vom 21. Oktober 2019 nach summarischer Prüfung nicht aus, um die mögliche Gefahr einer Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe gegen den Antragsteller auszuräumen. Entgegen der Auffassung des Antragstellers begegnet es zwar keinen durchgreifenden Bedenken, dass die Zusicherung durch die Botschaft der Republik Irak – und nicht durch die Regierung selbst – abgegeben wurde. Die Botschaft der Republik Irak ist die diplomatische Vertretung des Irak in Deutschland; der Fall bietet keinen Anlass daran zu zweifeln, dass die Zusage dieser Stelle mit Bindungswirkung für die irakische Regierung erfolgen sollte und erfolgt ist. Der Inhalt der Zusicherung ist aber hinsichtlich der Frage der Vollstreckung der Todesstrafe zu vage und allgemein. Soweit darin unter Punkt 3. ausgeführt wird, das irakische Gesetz verbiete die Verhängung gegenüber Straftätern, die bei der Ausübung der Straftat noch minderjährig waren, und (sinngemäß) es werde derjenige nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, der bei der Ausübung der Straftat zwischen 18 und 20 Jahre alt war, wird hierdurch lediglich die – oben dargestellte – Gesetzeslage wiedergegeben. Eine auf den Antragsteller individuell bezogene Zusicherung kann darin nicht erblickt werden, zumal vorliegend – wie ausgeführt – aufgrund der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse zweifelhaft ist, ob diese Gesetzeslage durchgängig eingehalten wird. Gleiches gilt für den einleitenden Satz, dass die irakische Verfassung und das irakische Strafgesetz Nr. 111 des Jahres 1961 alle gesetzlichen Sicherheitsmaßnahmen, die in der Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 25.07.2019 erbeten wurden, gewähre, der sich ebenfalls nur auf die Gesetzeslage, nicht aber auf die tatsächliche Strafpraxis bezieht. Etwas anderes folgt nicht aus dem abschließenden Satz, die Botschaft wäre demgemäß erfreut, wenn das Auswärtige Amt und die deutschen Justizbehörden darauf vertrauen können, dass sich die irakischen Staatsbürger nach Ankunft in der Republik Irak einer menschlichen Behandlung durch die zuständigen irakischen Behörden sicher sein können. Dieser enthält keinen hinreichenden Bezug zu der Frage einer drohenden Vollstreckung der Todesstrafe im Falle des Antragstellers und wirft zudem aufgrund der verklausulierten Formulierung als Konditionalsatz Zweifel auf, ob darin überhaupt eine Zusage erkannt werden kann.

46 b) Dem Antragsteller droht im Irak nach summarischer Prüfung die Gefahr der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK.

47 Folter und unmenschliche Behandlung werden von der irakischen Verfassung in Art. 37 ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1984 (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren eingesetzt. Es kommt immer wieder zu systematischer Anwendung von Folter bei Befragungen durch irakische Polizei- und andere Sicherheitskräfte. [...]

48 Die irakischen Behörden sollen IS-Verdächtige in überfüllten Haftanstalten unter unmenschlichen Bedingungen einsperren und ihnen systematisch auch die Rechte auf ein ordnungsgemäßes Verfahren verwehren, wie z.B. Garantien im irakischen Recht, dass Häftlinge innerhalb von 24 Stunden einen Richter sehen müssen, während der Verhöre Zugang zu einem Anwalt haben, dass ihre Familien über ihre Inhaftierungen informiert werden bzw. dass Inhaftierte mit ihren Familien kommunizieren können (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 20. November 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 30. Oktober 2019, S. 117 m.w.N.; vgl. ferner EASO, Targeting of Individuals, März 2019, S. 24 m.w.N.; United States Department of State, Iraq 2018 Human Rights Report, S. 2, 5). [...] Männer und Jungen, die im Verdacht standen, Mitglieder des IS zu sein, fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer. [...] Für die Beschuldigten kann es schwierig sein, einen Rechtsbeistand zu finden. Anwälte und andere, die Rechtsdienstleistungen für IS-Verdächtige und Familien erbringen, die mit tatsächlichen oder vermeintlichen IS-Mitgliedern in Verbindung stehen, sollen Drohungen, Belästigungen und in einigen Fällen willkürlichen Verhaftungen und Strafverfolgungsmaßnahmen wegen Terrorismus durch Sicherheits- und Nachrichtendienste und regierungsnahe Kräfte ausgesetzt gewesen sein (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019, S. 65 m.w.N.; Amnesty International, Irak 2017/18). Zudem sollen Rechtsanwälte vor Prozessbeginn regelmäßig eingeschränkten oder keinen Zugang zum Angeklagten haben (vgl. UNHCR, a.a.O., S. 34 m.w.N.).

49 Gemessen daran drohen dem Antragsteller bei dem wahrscheinlichsten Rückkehrszenario – seiner Festnahme und Inhaftierung unmittelbar nach einer Einreise in den Irak aufgrund des gegen ihn erlassenen Haftbefehls – sowohl Folter durch irakische Sicherheitskräfte zur Erzwingung eines Geständnisses als auch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung aufgrund der geschilderten Haftbedingungen.

50 Die Verbalnote der Botschaft der Republik Irak vom 21. Oktober 2019 vermag diese Gefahren nicht vollständig auszuräumen. Soweit darin unter Ziffer 2. bestätigt wird, dass sich die zuständigen irakischen Justizbehörden an geltende internationale Gesetze und Übereinkommen halten, was demgemäß bedeute, dass keinerlei Folterung für den Angeklagten zu erwarten sei, ist dies nicht ausreichend. [...]