Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Verfolgung im Irak aufgrund "westlicher Prägung":
1. Flüchtlingsanerkennung für einen liberal eingestellten schiitischen Muslim aus Bagdad wegen der drohenden Verfolgung durch die (schiitische) al Haschd-Miliz.
2. Interner Schutz ist für arabische Iraker*innen auch in den kurdischen Gebieten nicht verfügbar.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Welche Entscheidungskriterien zur richterlichen Überprüfung einer, wie im vorliegenden Fall vorgetragenen, Lebenseinstellung, die sich im grundlegenden Gegensatz zu derjenigen der Mehrheitsgesellschaft befindet, heranzuziehen sind, lässt sich ähnlich wie es bei einer Konversion zu einem anderen Glauben der Fall ist, nicht allgemeingültig beantworten. Zumindest muss der Asylbewerber, der sich auf eine solche Lebenseinstellung und die damit verbundenen Verhaltensweisen beruft, die inneren Beweggründe bzw. seine innere Einstellung glaubhaft machen, die ihn zu dieser Lebenseinstellung und den damit verbundenen Verhaltensweisen veranlasst haben. Es muss festgestellt werden können, dass diese Lebenseinstellung - ähnlich einem Religionswechsel - auf einer festen Überzeugung und nicht auf Opportunitätserwägungen beruht. Erst wenn die vorgetragene Lebenseinstellung die gesamte Identität des Schutzsuchenden, einschließlich der religiösen oder nichtreligiösen, in dieser Weise prägt, kann ihm unter Umständen nicht angesonnen werden, in seinem Heimatland ein Leben zu leben, dass weder seinen inneren Überzeugungen noch seinem angestrebten und auch öffentlich gern gezeigten Verhalten entspricht, nur um staatlichen oder staatlich geduldeten Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20. Januar 2004 - 1 C 9.03 -, Juris, Rn. 22 und OVG NRW, Beschl. v. 21. März 2012 - 13 A 674/12.A -, juris, Rn. 4ff. mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).
Wann eine solche Prägung anzuerkennen ist, lässt sich ebenfalls nicht allgemein beschreiben. Nach dem aus der Gesamtheit des Verwaltungs- und des gerichtlichen Verfahrens gewonnenen Eindruck muss der Schutzsuchende aus voller innerer Überzeugung eine Lebenseinstellung entwickelt haben, die im starken Gegensatz zu der von der Mehrheitsgesellschaft in seinem Heimatland und der diese Mehrheitsgesellschaft prägenden Kultur und Traditionen steht. Er muss darlegen können, was seine Lebenseinstellung ausmacht, warum sie ihm für sein Leben unverzichtbar erscheint und warum er nicht gewillt ist, den dadurch entstehenden Konflikten mit anderen und Bedrohungen für seine Person zu entgehen, in dem er sich hinsichtlich seiner Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Mehrheitsgesellschaft anpasst. [...]
Die irakische Verfassung erkennt zwar das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend am, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes. Die irakische Gesellschaft zerfällt nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins immer mehr in ihre religiösen und ethnischen Segmente. Durch die Gräuel des Islamischen Staates (IS) gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten hat sich diese Tendenz weiter verstärkt. Hinzu kommt, dass derzeit im Irak ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit nicht existieren. Nach der allgemeinen Sicherheitslage existiert ein ausreichender staatlicher Schutz vor den Übergriffen nichtstaatlicher Akteure im Irak nicht. Auch die im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) mobilisierten, zum Teil vom Iran oder Saudi-Arabien unterstützten, schiitisch oder sunnitisch geprägten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potentiell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12. Januar 2019 (Stand: Dezember 2018, S. 12 und 16).
Die irakische Gesellschaft wird zunehmend durch den Islam und dessen strenge Sitten und Bräuche geprägt. Dies beginnt bereits bei der Bekleidung und setzt sich in vielen Bereichen des Alltags (z.B. Essen, striktem Alkoholverbot, Verhaltensregeln beim persönlichen Umgang mit anderen Menschen usw.) fort (vgl. www.asien.net/irak/).
)Wie stark der konservative Islam inzwischen die irakische Gesellschaft prägt und dadurch bestimmte Personengruppen diskriminiert und verfolgt werden, zeigt sich auch in der asylrechtlichen Rechtsprechung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an irakische Staatsbürger, wenn diese zum Christentum konvertiert, Atheisten, alleinstehende Frauen oder homosexuelle Männer sind (vgl. hierzu: VG Dresden, Urt. v. 3. Juli 2019 - 13 K 2147/17 A (Konvertit); VG Hannover, Urt. v. 26. Februar 2018 - 6 A 5109/16 - (Atheist), juris; VG Dresden, Urt. v. 5. November 2019 - 13 K 2817/17 A - (homosexueller Mann) und VG Dresden, Urt. v. 5. Juni 2018 - 13 K 1927/16.A - (alleinstehende Frau)).
Es ist auch davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak und der Fortsetzung seiner liberalen religiösen Einstellung und den damit verbundenen Verhaltensweisen, die er auch in der Öffentlichkeit wieder zeigen würde und die eher einer Lebensweise in einer westlichen Gesellschaft entsprechen als einer solchen in einer zwar sich auf dem Papier (Verfassung) multiethnisch, multireligiös und multikonfessionell gebenden, jedoch in der Lebensrealität des heutigen Irak immer mehr vom Islam geprägten Gesellschaft, einer erneuten Verfolgung und Bedrohung seiner Gesundheit und seines Lebens ausgesetzt wäre. Es ist dem Kläger auch nicht zumutbar, bei einer Rückkehr in den Irak seine liberalen religiösen Einstellungen, die inzwischen seine Persönlichkeit prägen, zu verbergen, um dort unbehelligt leben zu können.
Da die nichtstaatlichen Akteure, vorwiegend die schiitischen Milizen, landesweit agieren, ist für den Kläger eine sogenannte innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG nicht erkennbar. Da der Kläger Araber ist, kann insbesondere auch nicht von ihm erwartet werden, dass er dauerhaft sich in dem autonomen Kurdengebiet im Nordirak niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Hinzu kommt, dass die Region Kurdistan-Irak durch die noch immer große Zahl von Binnenvertriebenen (aus dem Zentralirak) belastet ist. 800.000 Binnenflüchtlinge und ca. 250.000 syrische Flüchtlinge leben in dieser Region. Die Rückkehrbewegungen aus dieser Region haben sich aktuell deutlich verlangsamt, zumal viele Binnenflüchtlinge derart traumatisiert sind, dass aus ihrer Sicht eine baldige Rückkehr in ihre Heimat nicht in Betracht kommt. Die Versorgung dieser Flüchtlinge in der Region Kurdistan-Irak ist weiterhin nur durch umfangreiche internationale Unterstützung möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, a.a.O., S. 20).
Auch aus diesem Grund stellt die autonome Region Kurdistan-Irak für den aus Bagdad stammenden Kläger keine inländische Fluchtalternative dar. Im Übrigen ist bei der Gefahrenprognose auch vorrangig auf die Herkunftsregion des Ausländers abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris). [...]