VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 09.01.2020 - 8 K 26991/17 Me - asyl.net: M28137
https://www.asyl.net/rsdb/M28137
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für einen jungen Mann aus Afghanistan wegen der Gefahr der Blutrache:

1. Drohende Verfolgung wegen Blutrache durch die Taliban knüpft nicht an unterstellte politische Motive an. Es fehlt daher (im hier vorliegenden Fall) an einem asylrelevanten Verfolgungsgrund.

2. Angehörigen der Volksgruppe der Hazara droht in Afghanistan keine Gruppenverfolgung.

3. Die bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohende Tötung durch die Taliban stellt eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar. Das Verfolgungsinteresse beschränkt sich in Fällen der Blutrache auch nicht auf Täter*innen, sondern stellvertretend auch auf bestimmte Familienangehörige, wenn erstere selbst nicht erreicht werden können.

4. Vor der Blutrache durch Mitglieder der Taliban gibt es weder staatlichen Schutz noch besteht unter Berücksichtigung der individuellen Umstände in Afghanistan eine interne Fluchtalternative.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Blutrache, Taliban, nichtstaatliche Verfolgung, subsidiärer Schutz, interner Schutz, Schutzfähigkeit, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Paschtunen,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, AsylG § 3e, AsylG § 3d, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Zur Überzeugung des Gerichts steht dem Kläger gemessen an diesen Grundsätzen kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG wegen der drohenden Verfolgung durch die Taliban bzw. der Familie des getöteten Taliban zu (Verfolgungshandlung). weil sie nicht an seine - vermeintliche - politische Überzeugung (Verfolgungsgrund) anknüpft. Der Vater des Klägers hat den Taliban nicht wegen einer anderen politischen Einstellung getötet, sondern weil dieser nach seinen Angaben in seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 04.10.2016 (Az.: ...-423) seinerseits ein Familienmitglied, einen Onkel des Klägers, erschossen hat. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Taliban dem Vater des Klägers deswegen politische Motive unterstellen. Vielmehr wird der Kläger von der Familie des Getöteten und den Taliban aus Gründen der Blutrache gesucht.

Der Kläger unterlag auch weder vor seiner Ausreise einer Gruppenverfolgung wegen seiner Volks- oder Religionszugehörigkeit als Angehöriger der Hazara bzw. als Schiit, noch droht ihm eine solche bei einer Rückkehr nach Afghanistan. Das Gericht geht davon aus, dass Hazara in Afghanistan keiner an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden Gruppenverfolgung ausgesetzt sind (vgl. auch BayVGH, B.v. 04.01.2017 - 13a ZB 16.30600 -, B.v. 19.12.2016 - 13a ZB 16.30581 -. U.v. 01.02.2013 - 13a B 12.30045 -; VG Lüneburg, U.v. 06.02.2017 - 3 A 126/16 -; VG Augsburg, U.v. 07.11.2016 - Au 5 K 16.31853 -; VG Würzburg, U.v. 25.11.2016 - W 1 K 16.31534 -, VGH Baden-Württemberg, U.v. 17.01.2018 - A 11 S 241/17 - alle zitiert nach juris). Die hierfür nach den obigen Ausführungen erforderliche Verfolgungsdichte ist derzeit nicht gegeben. Dies ergibt sich im Einzelnen aus Folgendem:

Die Hazara gehören zu einer ethnischen Minderheit in Afghanistan. Ihr Anteil an den Volksgruppen beträgt geschätzt 10 %; ihre Zahl beläuft sich auf 3 Millionen (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 31.05.2018. S. 9 ff., 11; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Afghanistan, Stand: 27.06.2017, S. 150). Traditionell besiedeln die Hazara das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und auch Hadaradschat genannt wird. Es umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak sowie einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pul. Viele Hazara haben mittlerweile aber ihre Heimatregion verlassen wegen der jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen und der schweren Lebensbedingungen und leben in den afghanischen Städten, insbesondere in Kabul (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Afghanistan, Stand: 27.06.2017, S. 152).

Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Eine Minderheit der Hazara sind Ismailiten (Siebener Schiiten, Ismail ist für sie der letzte und siebente Imam). Die Gesellschaft der Hazara ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Aus der Familie besteht auch größtenteils das soziale Netz der Hazara. Soziale oder politische Stammesstrukturen bestehen bei ihnen nicht (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Afghanistan, Stand: 27.06.2017, S. 152).

Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Für die während der Talibanherrschaft wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit und wegen ihres schiitischen Glaubens besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert. Sie sind zwar immer noch in der öffentlichen Verwaltung unterrepräsentiert (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 31.05.201 S. 9 ff.), sind aber im nationalen Durchschnitt mit etwa 10 % in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Afhanistan, Stand: 27.06 2017, S. 153).

Viele Angehörige der Hazara haben ihre Situation ökonomisch und politisch durch Bildung verbessert. Viele von ihnen, auch Frauen, schließen Studien ab oder schlagen den Weg in eine Ausbildung in Informationstechnologien, Medizin oder anderen Bereichen ein, die in den unterschiedlichen Sektoren der afghanischen Wirtschaft besonders gut bezahlt werden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Afghanistan, Stand: 27.06 2017, S. 153). Nach Angaben einer Forscherin des Afghanistan Analysts Network (AAN) seien Hazara an Schulen und Universitäten "überrepräsentiert" und würden an staatlichen Universitäten häufig die "größte Gruppe an eingeschriebenen Studenten" bilden. Allerdings gebe es in manchen Teilen der Stadt Kabul nicht genügend öffentliche Schulen, in denen die Hazara untergebracht werden könnten, und Privatschulen seien für große Teile der Hazara-Bevölkerung nicht leistbar (ACCORD, Anfragebeantwortung v. 21.11.2016).

In der Vergangenheit wurden die Hazara von den Paschtunen verachtet, sie wurden von ihnen als Hausangestellte oder für andere niedrige Arbeiten eingestellt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Afghanistan, Stand: 27.06.2017, S. 153).

Hazara werden häufig Opfer von Erpressung, illegaler Besteuerung, physischer Übergriffe, Zwangsrekrutierungen und Zwangsarbeit sowie Festnahmen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Afghanistan, Stand 27.06.2017, S. 153; UNHCR, Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, v. 19.04.2016, S. 87). Sie sind auch häufig Opfer von Anschlägen des IS geworden.

Soweit Einzelfülle von Entführungen oder ähnliche Übergriffe auf Rückkehrer aus dem Westen bekannt geworden sind, genügt dies mit Blick auf die für eine Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht für die Annahme einer drohenden asylrelevanten Verfolgung. Dass Rückkehrern aus dem europäischen Ausland generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Entführung und Gewalttaten drohen würden, weil sie als reich wahrgenommen würden, ist den aktuellen Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. NdsOVG, Urteil vom 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -. juris Rn. 124; vgl. VG Augsburg, Urteil vom 01.10 2018 - Au 3 K 17.32950 -, juris Rn. 31). Die in den Lageberichten geschilderten Überfälle auf schiitische Einrichtungen in Kabul und anderen Städten des Landes zeigen die latenten Spannungen zwischen IS und Hazara, führen aber in ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung nicht zur Annahme einer auch in Kabul so für Hazara gesteigerten Leibes- und Lebensgefahr, die jeden zurückkehrenden Hazara treffen würde (vgl. auch VGH BW, U.v. 11.4.2018 - A 11 S 924/17 - juris Rn. 47 ff.).

Für das Jahr 2017 verzeichnete UNAMA insgesamt 22 solcher Anschläge mit 557 zivilen Opfern (211 Tote und 346 Verletzte), die in erster Linie auf schiitische Gebetsstätten oder andere religiöse Versammlungsorte zielten, für das Jahr 2018 insgesamt 19, die verstärkt (auch) gegen zivile Ziele in mehrheitlich von Hazara bzw. Schiiten bewohnten Stadtvierteln gerichtet waren und zu 747 zivilen Opfern (223 Tote und 524 Verletzte) führten (vgl. UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in armed Conflict, Annual Report 2018, Februar 2019, S. 29, und UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2017, Februar 2018, S. 41; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik: Afghanistan vom 31.05.2018, S. 10). Die Entwicklung veranlasste das afghanische Innenministerium neben der Erhöhung der Polizeipräsenz (vgl. EASO, Country of Origin Information Report: Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 76) zu neuen Sicherheitsmaßnahmen. Landesweit wurden schiitische Zivilisten bewaffnet und etwa 2.500 Männer rekrutiert, die - vor allem in den besonders betroffenen Großstädten - ca. 600 Moscheen und Schreine bewachen (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 31.01.2019, S. 55; EASO, Country of Origin Information Report: Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 76) und mit den staatlichen Sicherheitskräften jedenfalls einzelne Anschläge verhindern konnten. Auch im Jahr 2019 sind mit den bereits genannten am 7. und 21.03.2019 in Kabul verübten Anschlägen, die 151 bzw. 29 zivile Opfer zur Folge hatten, weiter gravierende, gezielt gegen Schiiten gerichtete Angriffe zu verzeichnen, wenngleich auch insoweit die gegenüber den ersten Quartalen der Vorjahre insgesamt zurückgegangene Zahl von Anschlägen zu berücksichtigen ist (vgl. UNAMA, Quarterly Report on the Protection of Civilians in Armed Conflict:  January to 31 March 2019, vom 24.04.2019, S. 2, 3 f.; ACCORD. Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, vom 25.03.2019, S. 25 f.).

Selbst angesichts dieser besonderen Gefahren ergibt sich aber derzeit nicht, dass die in Afghanistan im Allgemeinen und in Ghazni im Besonderen bestehende Bedrohungslage für Hazara - auch unter Berücksichtigung ihres überwiegend schiitischen Glaubens - einen relevanten Gefährdungsgrad erreicht hätte. Dabei sind in quantitativer Hinsicht der Anteil der Hazara von 10 % an der Gesamtbevölkerung und in qualitativer Hinsicht die zum Schutz dieser Personengruppe getroffenen Maßnahmen zu berücksichtigen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 1741/18.A -; Rn. 181 - 192, juris). [...]

Die Bedrohung durch die Taliban stellt im Falle der Rückkehr des Klägers in seine Heimatprovinz Ghazni eine Bedrohung mit einer unmenschlichen und einer erniedrigenden Behandlung, nämlich dem Tode dar. Der Kläger kann in Afghanistan auch keine interne Schutzmöglichkeit in Anspruch nehmen. Denn es ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Taliban ihn landesweit weiterhin suchen.

Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Vater des Klägers mit seiner Familie aus Afghanistan geflohen ist, weil er von den Taliban wegen der Erschießung zweier Mitglieder der Taliban verfolgt und mit dem Tod bedroht war. Diesen Vortrag hat die Beklagte bereits zur Grundlage der Zuerkennung subsidiären Schutzes für den Vater des Klägers und dessen jüngeren Bruder gemacht. Von der Glaubhaftigkeit dieses Vortrages ist auch in diesem Verfahren auszugehen.

Entgegen der Ansicht der Beklagten kann nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, das Verfolgungsinteresse der Taliban beschränke sich auf den Vater des Klägers, bestehe aber nicht für den Kläger als jüngeres Kind des originär verfolgten Vaters.

Ehre und Vergeltung bei Ehrverletzungen (badal) spielen [eine] zentrale Rolle im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali). Blutrache wird in Afghanistan überall sowie von und zwischen allen Volksgruppen praktiziert. Es gelten keine festen Regeln, wie z.B. ein Mindestalter; Blutrache kann auch noch nach Jahren oder Jahrzehnten ausgeübt werden, insbesondere wenn sich die Opferfamilie nicht sofort in der Lage fühlt oder sieht, Rache zu üben. Zwar zielt die Blutrache hauptsächlich auf diejenige Person ab, die einer Tat, wie bsp. eines Mordes, bezichtigt wird. Unter bestimmten Bedingungen kann aber auch die Tötung des Bruders des Täters oder eines anderen Verwandten der väterlichen Linie eine Alternative darstellen (Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH -, Schnellrecherche der Länderanalyse vom 07.06.2017. S. 1, 2). Es kann daher nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass die Taliban oder die Familien der vom Vater des Klägers getöteten Taliban nicht auch jüngere Kinder des Vaters, nämlich den Kläger töten, wenn sie des Vaters wegen dessen Flucht aus Afghanistan nicht habhaft werden können.

Staatlichen Schutz kann der Kläger gegen die Bedrohung durch die Taliban nicht erwarten. Der afghanische Staat ist nicht in der Lage, in solchen Fällen Schutz zu gewähren, auch nicht in den Großstädten, wie z.B. in Kabul. Die afghanische Regierung ist aufgrund der starken innenpolitischen Zersplitterung, der mangelnden Rechtsstaatlichkeit, der weitverbreiteten Korruption sowie der äußerst prekären Sicherheitslage grundsätzlich nicht in der Lage, die Zivilbevölkerung vor Übergriffen und Anschlägen zu schützen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 14.09.2017, S. 4 f.; Auswärtiges Amt, Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31.05.2017 v. 28.07.2017, S. 11).

Dem Kläger drohte damit bereits vor seiner Flucht aus Afghanistan, dort Opfer von Verfolgungshandlungen zu werden, ohne dass diese Bedrohungslage während seines Aufenthalts im Iran geendet wäre. Nach Angaben des Vaters des Klägers suchen die Taliban weiterhin nach dem Vater des Klägers, wie ihm ein Freund berichtet habe. Der Vater des Klägers und der Kläger sind mithin vorverfolgt ausgereist. so dass auch dem Kläger die Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4. ARL zu Gute kommt und bereits deshalb zu vermuten ist, dass ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan erneut eine Verfolgung droht.

Der Zuerkennung subsidiären Schutzes steht nicht § 3e AsylG entgegen. Die Gewährung subsidiären Schutzes kommt nur in Betracht, wenn dem Asylsuchenden nicht die Möglichkeit internen Schutzes nach § 3e AsylG offensteht, d.h. wenn er in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1) und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

Dem Kläger, der in der Provinz Ghazni verfolgt wurde, wäre landesweit nicht vor einer Verfolgung sicher.

Die Frage, ob der Kläger bei einer Rückkehr landesweit Gefahr liefe, von den Taliban bzw. der Familie des getöteten Taliban verfolgt zu werden, kann nur unter Berücksichtigung individueller Faktoren beantwortet werden. Von diesen hängen sowohl die Verfolgungsgefahr als auch die Zumutbarkeit der inländischen Schutzalternative ab. In die Beurteilung fließen ein etwa der konkrete Vorwurf seitens der Taliban, die Häufigkeit und Intensität der erfolgten Bedrohung sowie die seit dem letzten Kontakt mit den Taliban und der Ausreise aus Afghanistan vergangene Zeit (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 07.05.2018 - 3 L 84/18 -, juris, Rn. 8 ff.; BayVGH, Beschluss vom 02.11.2017 - 13a ZB 17.31033 -, juris, Rn. 4). In den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 sowie im Gutachten von Friederike Stahlmann an das Verwaltungsgericht Wiesbaden vom 28.03.2018 (Bedrohungen im sozialen Alltag Afghanistans - Der fehlende Schutz bei Verfolgung und Gewalt durch private Akteure, Asylmagazin 3/2017) wird ausgeführt, dass die Taliban grundsätzlich in der Lage sind, Rückkehrende überall in Afghanistan zu identifizieren und aufzuspüren. Wie weitreichend das Verfolgungsinteresse der Taliban sei, hängt vom Einzelfall ab.

Gemessen an diesen Maßstäben sprechen alle Einzelfallumstände dafür, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland, auch z.B. in Herat, Mazar-e Sharif oder Kabul, erneut von einer Verfolgung durch die Taliban bedroht wäre.

Eine mögliche Entdeckungs- und Zugriffswahrscheinlichkeit ist zwar reduziert, weil in Afghanistan keine Meldepflicht und auch eine große räumliche Distanz zwischen z.B. Herat und der Heimatprovinz des Klägers, Ghazni, bestehen. Indes ist trotz des vergangenen Zeitraums von 21 Jahren davon ausgehen, dass die Taliban wegen der Ermordung zweier Taliban durch den Vater des Klägers nicht nur ein gesteigertes, noch andauerndes Interesse an der Verfolgung und Tötung des Vaters des Klägers, sondern auch des Klägers selbst im Hinblick auf die für Paschtunen übliche Blutrache haben. Angesichts eines möglichen Informationsaustausches im Hinblick auf gesuchte Mörder getöteter Taliban und deren Familien durch die Geheimdienststrukturen und -zellen der Taliban untereinander (vgl. Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report, Afghanistan: Taliban's Intelligence and the intimidation campaign sowie Taliban's organisation and structure v. 23.08.2017) kann daher eine Gefahr für den Kläger auch in anderen Landesteilen Afghanistans nicht in hinreichendem Maße ausgeschlossen werden. [...]