VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.01.2020 - 11 S 2544/19 - asyl.net: M28156
https://www.asyl.net/rsdb/M28156
Leitsatz:

Sofortige Vollziehung der Feststellung des Nichtbestehens eines Freizügigkeitsrechts:

"1. Zum vorläufigen Rechtsschutz gegen Feststellungen nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU, die gegen den drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers und gegen die minderjährigen Kinder des drittstaatsangehörigen Ehegatten aus erster Ehe wegen des Bestehens einer Scheinehe verfügt worden sind.

2. Weder aus dem unionsrechtlichen Regelungssystem noch dem deutschen nationalen Recht lassen sich Beschränkungen ableiten, die Sofortvollzugsanordnungen (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) in Bezug auf Maßnahmen ausschließen, für die der deutsche Gesetzgeber in Ausübung seiner Regelungskompetenz nach Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG im nationalen Recht Ermächtigungsgrundlagen geschaffen hat. Dies gilt für Feststellungen nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU ebenso wie für Verfügungen nach § 7 FreizügG/EU."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: drittstaatsangehöriger Ehegatte, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Sofortvollzug, Suspensiveffekt, Zweckehe, Rechtsmissbrauch, vorsätzliche Täuschung, Schutz von Ehe und Familie, Scheinehe,
Normen: FreizügG/EU § 2 Abs. 7, AEUV Art 21 Abs. 1, VwGO § 80 Abs 5 VwGO,VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, FreizügG/EU § 7 Abs. 2 S. 5
Auszüge:

[...]

a) Der Senat hat keine Veranlassung, die in den Bescheiden vom 7. März 2018 enthaltenen Sofortvollzugsanordnungen aufzuheben. Weder das Unionsrecht noch das deutsche nationale Recht stehen dem Erlass solcher Anordnungen in grundsätzlicher Weise entgegen; dies gilt auch dann, wenn sich die Anordnungen auf Verfügungen nach § 2 Abs. 7 und § 7 FreizügG/EU beziehen. Entgegen der Auffassung der Antragsteller ergibt sich nichts Anderes aus Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. [...]

Weder aus dem unionsrechtlichen Regelungssystem noch dem deutschen nationalen Recht lassen sich jedoch Beschränkungen ableiten, die den Erlass von Sofortvollzugsanordnungen im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO in Bezug auf Maßnahmen ausschließen, für die der deutsche Gesetzgeber in Ausübung seiner Regelungsbefugnisse nach Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG im nationalen Recht Ermächtigungsgrundlagen geschaffen hat. Dies gilt für Feststellungen nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU ebenso wie für Verfügungen nach § 7 FreizügG/EU. Nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten (vgl. EuGH, Urteil vom 19.12.2019 <Deutsche Umwelthilfe> - C-752/18 -, Rn. 33) ist es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, sowohl für das behördliche, als auch für das gerichtliche Verfahren das Verfahrensrecht festzulegen, sofern und soweit diesbezüglich keine Vereinheitlichung auf Unionsebene stattgefunden hat. Dient das Verfahrensrecht auch der Anwendung und Umsetzung von Vorgaben des Unionsrechts im konkreten Einzelfall, hat der nationale Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Verfahrensrechts allerdings das Äquivalenzprinzip und den Effektivitätsgrundsatz zu beachten (EuGH, a.a.O.). Danach darf der nationale Gesetzgeber die Modalitäten des Verfahrens für Fälle, die die Anwendung und Umsetzung von Vorgaben des Unionsrechts betreffen, für die Beteiligten nicht ungünstiger ausgestalten, als dies für gleichartige, jedoch allein dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte geschehen ist (Äquivalenzprinzip). Außerdem darf die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (Effektivitätsgrundsatz).

Das einschlägige Unionsrecht enthält kein Verbot, Entscheidungen mitgliedstaatlicher Behörden, die in Anwendung von Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG und der einschlägigen Ermächtigungsgrundlagen des nationalen Rechts erlassen werden, für sofort vollziehbar zu erklären oder gesetzlich so  auszugestalten, dass sie bereits vor dem Eintritt der Bestandskraft vollzogen werden können. Im Gegenteil lässt sich aus dem Zusammenspiel von Art. 35 Satz 2 und Art. 31 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 2004/38/EG ableiten, dass der Unionsgesetzgeber auch im Anwendungsbereich des Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG mit gerichtlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gerechnet hat, die dem bestandskräftigen Abschluss des Verwaltungsverfahrens über die betreffende Maßnahme bzw. dem rechtskräftigen Abschluss eines hierauf bezogenen gerichtlichen Hauptsacheverfahrens vorgelagert sind. Der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten wird daher im Anwendungsbereich des Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG nur insofern unionsrechtlich eingeschränkt, als bei der gesetzgeberischen Ausgestaltung sowie Durchführung von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren die in Art. 30 und 31 der Richtlinie 2004/38/EG aufgeführten Verfahrensgarantien sowie das Äquivalenzprinzip und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten sind.

Danach begegnet es keinen grundsätzlichen Bedenken, Sofortvollzugsanordnungen nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO auch auf Verfügungen nach § 2 Abs. 7 und § 7 FreizügG/EU zu beziehen (ohne weitere Erörterung ebenso OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 03.05.2019 - 3 S 19.19 -, juris Rn. 3 f.; VG Hamburg, Beschluss vom 12.07.2019 - 15 E 1507/19 -, juris Rn. 24 ff., sowie der mit der Beschwerde angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart). Denn das deutsche Recht eröffnet gegen sofort vollziehbare Entscheidungen im Sinne des Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG Rechtsbehelfe, die sowohl im Hauptsacheverfahren als auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf eine einzelfallbezogene Prüfung der Sach- und Rechtslage angelegt sind und auch dem Zweck dienen, die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu gewährleisten (§ 42 Abs. 1, § 80 Abs. 4 und 5 VwGO). Differenzierungen, die mit dem Äquivalenzprinzip nicht zu vereinbaren wären, werden bei der Ausgestaltung dieses Rechtsschutzsystems nicht vorgenommen. Auch der Effektivitätsgrundsatz wird beachtet. Speziell mit Blick auf das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO ist diesem Grundsatz im Rahmen der vom Gericht zu treffenden Abwägungsentscheidung Rechnung zu tragen. [...]