VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 29.10.2019 - A 7 K 8737/17 - asyl.net: M28162
https://www.asyl.net/rsdb/M28162
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Mitgliedschaft in der verbotenen und als konterrevolutionär eingestuften christlichen Kirche der "Schreienden":

1. Mitglieder der Kirche der "Schreienden" (Huhan Pai) werden in China Aufgrund ihres Glaubens und der darin nach Auffassung des chinesischen Staates zum Ausdruck kommenden Regimegegnerschaft religiös und politisch verfolgt. Den Gläubigen drohen Belästigungen und Folter sowie gesellschaftliche Diskriminierung z.B. auf dem Arbeitsmarkt.

2. Auch vorverfolgten Personen ist es unter Umständen möglich, auf dem Luftweg aus China auszureisen, da die chinesische Grenzüberwachung an den Flughäfen nicht unfehlbar ist und erhobene Daten nicht zwangsläufig von einer Stelle an die nächste weitergeleitet werden. Zudem ist die Herstellung oder Beschaffung gefälschter oder formal echter, aber inhaltlich unwahrer Dokumente verschiedenster Art seit langem ohne besondere Schwierigkeiten in ganz China möglich.

3. Interner Schutz ist nicht verfügbar, denn für politisch Verfolgte gibt es keine sichere Ausweichmöglichkeit innerhalb Chinas

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: China, religiöse Verfolgung, Huhan Pai, Shouters, Christen, politische Verfolgung, interner Schutz, illegale Ausreise, Freikirche, Hauskirche,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Nach den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen sind die "Schreienden" eine protestantische Untergrundkirche mit baptistischem Hintergrund, deren Mitglieder im Gottesdienst eine verkürzte Form des "Vater Unser"-Gebets schreien. Von dieser Praxis leiten sich die Namen "Huhan Pai", "the Shouters" bzw. die "Schreienden" ab. Ein Ziel der "Schreienden" ist es, alle Kirchen gegen die kommunistische Partei Chinas zu mobilisieren. Im Jahr 1983 wurden die "Schreienden" zu einer "konterrevolutionären Organisation" erklärt. An die 2.000 Mitglieder wurden damals verhaftet und zu Haftstrafen von bis zu 15 Jahren verurteilt. 1995 wurden die "Schreienden" zu einem "Bösen Kult" ("evil cult") erklärt (BAF, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation China: Huhan Pai (the Shouters), aka Zhohui und Huifu Liu vom 17.05.2017 (im Folgenden: BAF, Anfrage Shouters), S. 2 m.w.N.; vgl. SFH, Schnellrecherche zu China: Vorgehen der chinesischen Behörden gegen christliche Hauskirchen vom 29.05.2015 (im Folgenden: SHF, Hauskirchen), S. 1). Die Mitgliedschaft ist daher gemäß Art. 300 des chinesischen Strafgesetzbuches strafbar (SFH, Hauskirchen, S. 2). Es kommt auf dieser Grundlage immer wieder zu Festnahmen sowie Verurteilungen zu Freiheitsstrafen. Den Gläubigen drohen weiterhin Belästigungen und Folter. Zudem werden Arbeitgeber unter Druck gesetzt, bei ihnen arbeitenden Mitgliedern der "Schreienden" die Entlassung anzudrohen oder diese zu entlassen. Auch werden Betroffene aus ihren Wohnungen ausgewiesen. Unter Präsident Xi Jinpihg wurden härtere Gesetze zur Kriminalisierung von Christen erlassen, die dem Staat nicht die Treue schwören und der Staat verfolgt mit größter Härte das Ziel der Sinisierung der Kirche und der Religion (BAF, Anfrage Shouters, S. 11 m.w.N.). So wurde die Maximalstrafe des Artikel 300 des chinesischen Strafgesetzbuches im August 2015 von 15 Jahren auf lebenslänglich angehoben. Zehntausende Personen sind wegen politischer oder religiöser Gründe in Gefängnissen oder administrativer Haft. Für religiöse Aktivisten gibt es unter anderem sogenannte "legal education centers" (vgl. SFH, Hauskirchen, S. 2 m.w.N.). [...]

Der Annahme steht nicht entgegen, dass die Klägerin trotz ihrer Festnahme und der Fahndung lokaler Polizisten nach ihr über einen Flughafen aus China ausreisen konnte.

Soweit das Bundesamt das Gegenteil annimmt, ist ihm zwar zuzugestehen, dass ein chinesischer Staatsangehöriger zur Ausreise einen gültigen Reisepass benötigt, welchen das jeweilige Bezirksamt für öffentliche Sicherheit am Meldewohnort nach Vorlage des Personalausweises und des Haushaltsregisters ("Hukou") sowie nach Zahlung einer Gebühr von ca. 25,00 Euro erteilt, und, sofern er für den Zielstaat visumpflichtig ist, auch das entsprechende Visum des Zielstaates. Dabei darf der Erteilung der Reisedokumente keiner der Versagungsgründe des polizeilichen Ermittlungsverfahrens, des laufenden Strafverfahrens, des Strafvollzugs oder des vorherigen Aufenthalts in einer  Besserungsanstalt entgegenstehen und auch nicht der Verdacht vorliegen, die Person werde bei Reisen ins Ausland die Sicherheit bzw. Interessen des Staates verraten bzw. sabotieren. Auch erfolgt am Flughafen während der Ein- und Ausreise bei den Passkontrollen eine entsprechende Datenerfassung im System der chinesischen Immigrationsbehörden unter Datenabgleich mit dem aktuellen Fahndungsbestand, so dass eine zur Fahndung ausgeschriebene oder politisch unliebsame Person am Grenzübertritt gehindert wird (AA, Lagebericht China vom 28.06.2018, S. 31). Deshalb haben Grenzbeamte in der Vergangenheit in verschiedenen Fällen gegenüber chinesischen Bürgerinnen und Bürgern die "Gefährdung der nationalen Sicherheit" als Grund für das Verweigern der Ausreise genannt, nachdem sie Zugang zur Onlinedatenbank des Chinesischen Büros für Öffentliche Sicherheit bzw. Zugriff auf Informationen zu gerichtlich verurteilten oder polizeilich gesuchten Personen hatten und so eine Person, die in der entsprechenden Datenbank erfasst war, beim Versuch der Ausreise identifizieren konnten (SFH, Schnellrecherche, S. 19 f.).

Gegen das Argument, dass eine legale Ausreise der Annahme einer Verfolgungsgefahr entgegenstehe, spricht jedoch, dass die chinesische Grenzüberwachung am Flughafen nicht unfehlbar ist und erhobene Daten nicht zwangsläufig von einer Stelle an die nächste weitergeleitet werden (UNHCR, Universal Periodic Review Germany, S. 9; VG Karlsruhe, Urteil vom 04.05.2018 - A 6 K 7906/16 juris). Zudem ist die Herstellung oder Beschaffung gefälschter oder formal echter, aber inhaltlich unwahrer Dokumente verschiedenster Art seit langem ohne besondere Schwierigkeiten in ganz China möglich. Die überwiegende Anzahl der bislang der Deutschen Botschaft in Peking von deutschen Behörden oder Gerichten im Zusammenhang mit Asylverfahren vorgelegten amtlichen Dokumente waren gefälscht. Immer wieder tauchen verfälschte chinesische Reisepässe auf, die mit gefälschten oder rechtswidrig erlangten Visa sowie gefälschten Ein- und Ausreisestempeln versehen sind (vgl. AA, Lagebericht China vom 28.06.2018, S. 30 f.). Von falschen oder gefälschten Dokumenten wird zu vielfältigen Zwecken Gebrauch gemacht. Nach Einschätzung internationaler Dokumentenexperten arbeiten in China die meisten und die besten Fälscherwerkstätten weltweit. Viele verfügen über neueste Technik (BFA, Länderinformation, S. 55; VG Karlsruhe, Urteil vom 04.05.2018 - A 6 K 7906/16 -, juris). Schließlich ist trotz der diesbezüglichen Kampagnen der Regierung Xi Jinpings die Korruption auf allen Ebenen der Beamtenschaft einschließlich der stark von der Regierung regulierten Bereiche und auch im Bereich der öffentlichen Sicherheit weiterhin weit verbreitet (BFA, Länderinformation, S. 21; VG Karlsruhe, Urteil vom 04.05.2018 - A 6 K 7906/16 -, juris). [...]

Auch eine zumutbare inländische Fluchtalternative stand der Klägerin weder zum Zeitpunkt ihrer Ausreise noch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung offen.

Wer von nur regionaler politischer Verfolgung betroffen war bzw. ist, ist erst dann als vorverfolgt bzw. rückkehrgefährdet anzusehen, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird. Das ist der Fall, wenn er in anderen Teilen seines Heimatstaates eine zumutbare Zuflucht nicht finden kann. Eine solche inländische Fluchtalternative besteht, wenn er in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm dort auch keine anderen Nachteile drohen, die ihrer Intensität und Schwere nach einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, wobei das Fehlen des wirtschaftlichen Existenzminimums nur dann für den Asylbewerber erheblich ist, wenn seine Notlage verfolgungsbedingt ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10.07.1989, - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315, 334 ff. und vom 23.01.1991, - 2 BvR 902/85 u.a. -, DVBl. 1991, 531; BVerwG, Urteile vom 15.05.1990, - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139, 140 f., vom 20.11.1990, - 9 C 74.90 -, InfAuslR 1991, 145, vom 09.09.1997, - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204, 211 ff.).

Es ist davon auszugehen, dass politisch unliebsame Personen innerhalb Chinas nicht untertauchen können. Zwar sind wegen der Größe des Landes und der historisch überkommenen Strukturen Einfluss und Kontrolle der Zentralregierung in den einzelnen Landesteilen unterschiedlich ausgeprägt, weshalb staatliche oder dem Staat zurechenbare Übergriffe in den Regionen unterschiedlich häufig auftreten. Daher kann es im Einzelfall möglich sein, durch einen Ortswechsel Repressalien auszuweichen. Aber für aus politischen Gründen Verfolgte gibt es keine sichere Ausweichmöglichkeit innerhalb Chinas (AA, Lagebericht China vom 23.12.2017, S. 22). Als dem Staat bekannte Angehörige der "Schreienden" könnte sich die Klägerin nach ihrer Identifizierung als solche über Jahre hinweg ihrer Gefangennahme nur entziehen, wenn sie beständig von einer Stadt oder einem Dorf ins nächste weiterzöge und sich mithilfe der Netzwerke der Mitgläubigen im Untergrund in ununterbrochener Furcht vor Festnahme versteckte. Dergleichen kann ihr aber nicht zugemutet werden (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012, - C-71/11 - und - C-99/11 - jeweils in juris), zumal die Klägerin im Falle eines Umzuges in einen anderen Landesteil durch die restriktive Registrierungspraxis ("Hukou"-System) ihren Zugang zu Bildung und Sozialleistungen verlieren würde. [...]