VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 26.04.2019 - M 15 K 17.33195 - asyl.net: M28163
https://www.asyl.net/rsdb/M28163
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender politischer Verfolgung in China:

1. Flüchtlingsanerkennung für eine minderjährig eingereiste Tibeterin aus der Volksrepublik China trotz eines Sprachgutachtens, das zu dem Schluss kam, dass sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit "sowohl aus Indien als auch aus Nepal" stammt.

2. Auch wenn sie mehrere Jahre im Exil in Nepal oder Indien gelebt haben sollte, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass sie die chinesische Staatsangehörigkeit verloren hat. Der Geburtsort in China wurde durch den Verein der Tibeter in Deutschland und das Büro des Dalai Lama bestätigt.

3. Chinesischen Staatsangehörigen mit tibetischer Volks- und buddhistischer Religionszugehörigkeit droht in China Verfolgung, jedenfalls wenn sie sich an exilpolitischen Aktivitäten beteiligt haben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: China, Tibeter, Sprachgutachten, Exilpolitik, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Vormund, Volljährigkeit, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

2.1 Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin nicht nur tibetische Volkszugehörige ist - was von Beklagtenseite nicht bestritten wird -, sondern auch ursprünglich aus Tibet stammt und damit die chinesische Staatsbürgerschaft hat. Die entsprechenden Fragen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung konnte sie widerspruchsfrei, glaubhaft und ohne Zögern beantworten und auch ihre Schilderungen beim Bundesamt waren sehr ausführlich und detailliert.

Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich insoweit auch nicht aus dem von Beklagtenseite eingeholten Sprachgutachten:

Zum einen stellt der Gutachter selbst fest, dass mittels der Sprachanalyse nur eine geographisch-sprachliche Zuordnung vorgenommen, nicht aber die Staatsangehörigkeit bestimmt werden könne. Nach dem Staatsangehörigkeitsrecht der Volksrepublik China besitzt eine Person die chinesische Staatsangehörigkeit, wenn mindestens ein Elternteil chinesischer Bürger ist und sie in China geboren wurde. Selbst wenn die Klägerin lange Zeit in Nepal oder Indien gelebt haben sollte, ist nicht ersichtlich, wie sie die durch Geburt erworbene Staatsangehörigkeit verloren haben sollte. Dies wäre nur der Fall, wenn sie auf entsprechenden Antrag ausgebürgert worden wäre oder die nepalesische bzw. indische Staatsangehörigkeit erworben hätte, wofür jedoch keinerlei Anhaltspunkte bestehen. Selbst im Exil lebende Tibeter besitzen somit i.d.R. die chinesische Staatsangehörigkeit (vgl. VG Karlsruhe, U.v.26.10.2018 - A 6 K 7355/16 - UA S. 11; VG München, U.v. 14.8.2014 - M 15 K 12.30155 - UA S. 8; U.v. 7.8.2014 - M 15 K 12.30207 - UA S. 9; Asylrekurskommission der Schweiz, U.v. 30.11.2004 - 2005/1-001).

Zum anderen teilt das Gericht die in der Rechtsprechung vorherrschende Kritik an derartigen Sprachgutachten im Hinblick auf die Feststellungsmethoden sowie der mangelnden Transparenz in Bezug auf die Person des Gutachters, so dass diese Gutachten nicht in der Lage sind, die Angaben der jeweiligen Kläger substantiiert in Zweifel zu ziehen (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 26.10.2018 - A 6 K 7355/16 - UA S. 12; VG Stuttgart, U.v. 15.12.2014 - A 11 K4458/14 S. 6; VG München, U.v. 14.8.2014 - M 15 K 12.30155 - UA S. 9; U.v. 7.8.2014 - M 15 K 12.30207 - UAS. 10 f.; VG Stuttgart, U.v. 17.3.2014 - A 11 K 2327/13 - UA S. 8 ff.; VG München, B.v. 3.4.2012 - M 15 S 12.30156 - BA S. 5 f.; VG Stuttgart, U.v. 20.2.2012 - A 11 K 4225/11 - juris Rn. 26 ff.).

Die Klägerin konnte zudem in der mündlichen Verhandlung auch z.B. glaubhaft machen, warum sie kein Chinesisch spricht, was der Gutachter u.a. als Beleg für eine Herkunft aus dem Exil angesehen hatte. Sie sei nicht in der Schule gewesen und auf dem Land sprächen alle Tibetisch.

2.2 Tibetern drohen bei einer Rückkehr nach China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 3 AsylG aufgrund ihrer Religion bzw. Volkszugehörigkeit, zumindest, wenn sie sich - wie die Klägerin - in Deutschland politisch betätigt haben (vgl. ARK, M 15 K 12.30155, M 15 K 12.30207):

Laut dem Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 14. Dezember 2018 (Lagebericht, S. 12 ff., 25) verfolgt die Zentralregierung Chinas eine gezielte Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung und Integration Tibets in die Volksrepublik China, wobei die Erhaltung der Stabilität und der Kampf gegen Separatismus immer im Vordergrund stehen. In Verfolgung des vordringlichen politischen Ziels der ethnischen und nationalen Einheit Tibets setze die Regierung auch hochrepressive Maßnahmen ein. Einschränkungen der Religionsfreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Verstärkung der Überwachungsmaßnahmen sowie Kollektivstrafen und Sippenhaft stünden auf der Tagesordnung. Zudem gebe es Fälle von Folter, Tod in Untersuchungshaft, willkürliche Festnahmen und Verschwindenlassen von Personen. Der tibetische Buddhismus als potentielle Quelle separatistischer Bewegungen werde mit größtem Misstrauen beäugt, streng kontrolliert und strukturell behindert. Die Bewegungsfreiheit bleibe für Tibeter maßgeblich durch Straßenkontrollen eingeschränkt. Das Stadtbild von Lhasas Altstadtkern sei geprägt von Sicherheitskontrollen, bewaffneten Polizisten auf Hausdächern, zahlreichen Polizeistationen und chinesischen Flaggen über jedem Hauseingang. In ländlichen Gebieten würden seit 2011 flächendeckend in allen 5.000 Dörfern "dorfbasierte Arbeitsteams" eingesetzt, die als Frühwarnsystem zur Vermeidung erneuter Unruhen in Tibet dienten. Gegen vermeintlich separatistische Kräfte gehe die Regierung in Tibet mit besonderer Härte vor. Seit dem 10. März 2008 seien mindestens 1.894 Tibeter als politische Häftlinge inhaftiert, von denen derzeit noch 650 in Haft seien. Die Behörden gingen harsch vor und setzen insbesondere Kollektivstrafen ein. Verwandten sowie Angehörigen der dörflichen oder klösterlichen Gemeinschaft drohten Freiheitsentzug oder Einschränkungen bei Sozialleistungen, Wohnraum und Zugang zu Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst. Darüber hinaus würden in einigen Fällen empfindlich hohe Geldstrafen verhängt. Insbesondere für aus politischen Gründen Verfolgte gebe es keine sichere Ausweichmöglichkeit innerhalb Chinas.

Nachdem die Klägerin glaubhaft angegeben hat, dass bereits ihr Vater in China nach der Teilnahme an einer Demonstration ca. drei Jahre im Gefängnis war und auch sie an einer Demonstration zur Unabhängigkeit Tibets teilgenommen hat, zu der dann die Polizei kam, ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr als (potentielle) Separatistin angesehen würde und eine zumindest vorübergehende Festnahme mit möglicherweise einhergehenden Misshandlungen zu befürchten hätte (vgl. a. VG Karlsruhe, U.v.26.10.2018 - A 6 K 7355/16 - UA S. 14). Dies gilt umso mehr, als sich die Klägerin in Deutschland in Form von öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen exilpolitisch betätigt hat, wie durch Fotos belegt wurde. Denn eine beachtliche Verfolgungsgefahr durch den chinesischen Staat besteht jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragsstellung sowie ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekannt geworden ist, da dann davon auszugehen ist, dass der Betreffende generell separatistischer Bestrebungen verdächtigt wird (vgl. VG Karlsruhe, U.v.26.10.2018 - A 6 K 7355/16 - UA S. 15 m.w.N.; VG Karlsruhe, U.v. 3.12.2015 - A 6 K 3779/13 - juris (Orientierungssatz); VG Stuttgart, U.v. 15.12.2014 - A 11 K 4458/14 - UA S. 5 f. m.w.N.; VG München, U.v. 14.8.2014 - M 15 K 12.30155 - UA S. 10 ff.; U.v. 7.8.2014 - M 15 K 12.30207 - UA S. 12 f.; VG Stuttgart, U.v. 17.3.2014 - A 11 K 2327/13 - UA S. 10 ff.; U.v. 20.2.2012 - A 11 K 4225/11 - juris Rn. 32 ff.). Insbesondere ist anzunehmen, dass exilpolitische Aktivitäten chinesischer Staatsangehöriger nachrichtendienstlich überwacht und Aktivitäten, welche aus Sicht der chinesischen Regierung geeignet sind, die Einheit des Landes zu gefährden, den chinesischen Behörden zur Kenntnis gebracht werden. Repressalien sind insoweit nicht auszuschließen (Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Augsburg v. 14.6.2012; VG Stuttgart, U.v. 15.12.2014 - A 11 K 4458/14 - UA S. 7 f.). Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Demonstrationen für die Freiheit Tibets, an der die Klägerin teilgenommen hat, von den chinesischen Geheimdiensten letztendlich als "chinafeindlich" angesehen werden. [...]