Flüchtlingsanerkennung wegen Entziehung vom Nationalen Dienst in Eritrea:
1. Die außergewöhnliche Härte der Bestrafung, zudem nach einem unfairen Gerichtsverfahren, legt nahe, dass die Verfolgung asylrelevant ist.
2. Wegen des jedenfalls nicht auszuschließenden unverhältnismäßigen Ausmaßes der Sanktionen kann angenommen werden, dass die Bestrafung Betroffene über die Ahndung des allgemeinen Pflichtverstoßes hinaus wegen ihrer politischen Überzeugung treffen sollen.
3. Maßgeblich für die Annahme einer politischen Verfolgung ist hier deshalb, dass die Bestrafung von Personen, die desertieren oder den Wehrdienst verweigern, außergerichtlich und willkürlich durch militärische Vorgesetzte vorgenommen wird und Rechtsmittel gegen deren Strafzumessungen nicht erhoben werden können.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Die Klägerin hat sofort im Anschluss an seine Zurückschiebung nach Eritrea mit einer Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung zu rechnen. [...]
Praktisch alle Quellen stimmen jedenfalls darin überein, dass illegal ausgereiste Deserteure bestraft werden, und zwar außergerichtlich - häufig von Militärvorgesetzten - und willkürlich sowie ohne die Möglichkeit, ein Rechtsmittel zu erheben; die Haftbedingungen sind häufig unmenschlich hart und lebensbedrohlich, Folter und Misshandlungen während der Inhaftierung sind verbreitet (VG Cottbus, Urteil vom 10. November 2017 - 6 K 386/15.A - , Rn. 32, juris unter Auswertung folgender Auskünfte: SEM Focus Eritrea - Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016 [aktualisiert am 10. August 2016], Ziff. 3.1.5. und 4.5.; EASO-Bericht Länderfokus Eritrea, Mai 2015, Ziff. 3.8.1 und 6.4.4). [...]
Dem Gericht liegen auch keine Auskünfte darüber vor, dass der eritreische Staat bei Rückkehrern, die keinen Wehrdienst geleistet haben, danach unterscheidet, ob der Betreffende Eritrea im Kindesalter und damit ohne eigene Verantwortung illegal verlassen hat oder ob er dies aus eigenem Entschluss in eigener Verantwortung tat. Rückkehrern, die keinen Wehrdienst geleistet haben und im Ausland einen Asylantrag gestellt haben, wird grundsätzlich eine regimefeindliche Gesinnung unterstellt.
Selbst Jugendliche, die versuchen, dem Wehrdienst zu entgehen, werden verhaftet (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea [Stand November 2017] vom 25.02.2018). Amnesty International (Eritrea 2018) berichtet davon, dass das Mindestalter für die Einberufung bei 18 Jahren läge, Schüler müssten aber weiterhin das letzte Schuljahr im militärischen Ausbildungslager Sawa verbringen. De facto würden damit auch Minderjährige zum Militärdienst eingezogen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Schnellrecherche der SFH- Länderanalyse vom 27. Juli 2017 zu Eritrea: Rekrutierung in den "National Service" durch die Kebabi Verwaltung) berichtet davon, dass bei weitem nicht alle eritreischen Jugendlichen das 12. Schuljahr im militärischen Ausbildungszentrum Sawa besuchten. Deshalb wende die eritreische Regierung weitere Rekrutierungsformen an. Sie führe im ganzen Land Razzien durch, um zu überprüfen, ob der "National Service" erfüllt sei. Dabei würden zahlreiche Personen, die nicht im Rahmen des 12. Schuljahres in Sawa rekrutiert würden, direkt von der Kebabi Verwaltung in den "National Service" aufgeboten. Amnesty International (Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea vom 28.07.2017) schildert, dass vor dem Hintergrund, dass nahezu jedem Asylantrag eine unrechtmäßige Ausreise aus Eritrea vorausgegangen sei und dies im Zusammenhang mit Desertion in Eritrea als Verrat und Opposition zur Regierung gewertet würde, Rückkehrer bei einer Abschiebung nach Eritrea grundsätzlich mit sofortiger Verhaftung und Internierung durch Polizei und Militär zu rechnen hätten.
Die Annahme der Beklagten im angefochtenen Bescheid, wonach die Bestrafung wegen der Wehrdienstentziehung nicht in Anknüpfung an die Merkmale nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG erfolge, ist unzutreffend.
Die der Klägerin drohende Verfolgung knüpft an einen Verfolgungsgrund im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG an, und zwar an seine politische Überzeugung. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Es genügt, dass ihm dies von seinem Verfolger zugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Andererseits macht allein der Umstand, dass der Betroffene sich bei seinem Handeln von einer politischen Überzeugung leiten lässt, eine ihm wegen dieses Handelns drohende staatliche Maßnahme noch nicht zu einer politischen Verfolgung.
Bestrafungen wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion, selbst wenn sie von weltanschaulich totalitären Staaten ausgehen, stellen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht schlechthin eine politische Verfolgung dar. In eine solche schlagen derartige Maßnahmen aber dann um, wenn sie zielgerichtet gegenüber bestimmten Personen eingesetzt werden, die hierdurch gerade wegen ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen persönlichen Merkmals getroffen werden sollen (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. August 1986 - 9 C 322.85 - juris Rn. 11).
Die außergewöhnliche Härte einer drohenden Strafe gibt dabei regelmäßig insbesondere dann Anlass zur Prüfung ihrer Asylrelevanz, wenn in einem totalitären Staat ein geordnetes und berechenbares Gerichtsverfahren fehlt und Strafen willkürlich verhängt werden, weil ein derartiges evidentes Fehlen rechtsstaatlicher Grundsätze ein Indiz für eine hinter der Strafnorm stehende Verfolgung in einem asylerheblichen Merkmal sein kann (BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 - 9 C 131.90 - juris Rn. 19).
Folter wird gegenüber Gefangenen trotz des gesetzlichen Verbots angewandt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 25.02.2018, Seite 16). In Medienberichten wird davon berichtet, dass die Haftbedingungen in Eritrea unvorstellbar brutal seien und Gefangene in Metallcontainern zusammengepfercht oder auch nur in Erdlöchern oder Zellen ohne Tageslicht untergebracht würden (taz, Bericht vom 09.06.2015). Auch würden zahlreiche Foltermethoden angewandt. Im UN-Bericht vom 8. Juni 2016 (S. 65 bis 68, Kapitel 260 bis 270 werden zahlreiche Schilderungen von Betroffenen über Folterpraktiken wiedergegeben). Das Auswärtige Amt nennt die Haftbedingungen unter Berufung auf andere Quellen als zum Teil unmenschlich hart und lebensbedrohlich(Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 25.02.2018, Seite 17), in früheren Lageberichten ist von häufigen Todesfällen infolge von Folter und unmenschlichen Haftbedingungen sowie im Militär von Erschießungen die Rede (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 15. Oktober 2014, Seite 15).
Maßgeblich für die Annahme einer politischen Verfolgung ist in diesem Zusammenhang weiterhin, dass die Bestrafung von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern außergerichtlich und willkürlich durch militärische Vorgesetzte vorgenommen wird und Rechtsmittel gegen deren Strafzumessung nicht erhoben werden können (VG Cottbus, Urteil vom 10. November 2017 - 6 K 386/15.A - , Rn. 32, juris unter Berufung auf SEM Focus Eritrea - Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016 [aktualisiert am 10. August 2016], Ziff. 3.1.2.).
Soweit in anderen Entscheidungen (vgl. VG Berlin, Urteil vom 01.09.2017 - 2 8 K 166.17 A - juris) die Verknüpfung von Verfolgungshandlungen mit den Verfolgungsgründen nach § 3b AsylG deshalb verneint wird, weil in Eritrea willkürliche Festnahmen ohne Haftbefehl und Angabe von Gründen auch in anderen Fällen üblich seien - weshalb weite Teile der Bevölkerung gleichermaßen getroffen seien - (VG Berlin, juris Rn 40) und weil die Flucht vor dem National Dienst in Eritrea zu einem Massenphänomen geworden sei (VG Berlin, juris Rn 41) vermag sich das erkennende Gericht dieser Auffassung und rechtlichen Schlussfolgerung nicht anzuschließen. Dass weite Teile der Bevölkerung aus dem gleichen Verfolgungsgrund Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind, schließt eine politische Verfolgung schon grundsätzlich nicht aus.
Außerdem vermag das erkennende Gericht nicht zu erkennen, woher die detaillierten Kenntnisse über die Strafzumessungspraxis bei "gewöhnlichen" Delikten und bei Delikten im Zusammenhang mit der Wehrdienstentziehung stammen sollten. So weist das Auswärtige Amt ausdrücklich darauf hin, dass es wegen der fast lückenlosen Unterdrückung freier Informationsmöglichkeiten innerhalb des Landes durch Militär, Polizei und Sicherheitsdienst in Eritrea außerordentlich schwierig sei, menschenrechtsrelevante Informationen zu erhalten und auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 25.02.2018, S. 2 [grundsätzliche Anmerkungen zu Ziffer 7] und keine Information darüber vorlägen, wer welches Strafmaß anhand welcher Rechtsnormen oder anderer Kriterien verhängt (ebenda S. 19). In einem solchen Fall muss es ausreichen, allein wegen des jedenfalls nicht auszuschließenden unverhältnismäßigen Ausmaßes der Sanktionen anzunehmen, dass sie den Betroffenen über die Ahndung des allgemeinen Pflichtverstoßes hinaus wegen seiner politischen Überzeugung treffen sollen. Die außergewöhnliche Härte einer drohenden Strafe gibt nämlich regelmäßig Anlass zur Prüfung ihrer Asylrelevanz, wenn in einem totalitären Staat ein geordnetes und berechenbares Gerichtsverfahren fehlt. Maßgeblich für die Annahme einer politischen Verfolgung ist hier deshalb, dass die Bestrafung von Deserteuren und Wehrdienstverweigerer nach den eingeführten Erkenntnissen außergerichtlich und willkürlich durch militärische Vorgesetzte vorgenommen wird und Rechtsmittel gegen deren Strafzumessungen nicht erhoben werden können.
Dass Gericht geht daher davon aus, dass die der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Bestrafung wegen Desertion und illegaler Ausreise an ihre (vermutete) politische Überzeugung als Verfolgungsgrund im Sinne von §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpft. Unter Auswertung der eingeführten Erkenntnisquellen ergeben sich überwiegende Anhaltspunkte dafür, dass der eritreische Staat im Falle einer Desertion oder Wehrdienstentziehung und einer damit begründeten Flucht aus Eritrea eine politische Gegnerschaft unterstellt, an die die drohende Bestrafung maßgeblich anknüpft (ebenso VG Cottbus, Urteil vom 10. November 2017 - 6 K 386/15.A - , juris Rn 44; VG Schwerin, Urteil vom 29. Februar 2016 - 15 A 3628/15 As SN - juris Rn 50 ff. und Urteil vom 20. Januar 2017 - 15 A 3003/16 As SN - juris Rn 49 ff.; VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Oktober2016 - 4 A 1646/16 - juris Rn 33 ff.; VG Aachen, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 7 K 2273/16.A - juris Rn 43; VG Minden, Urteil vom 13. November 2014 - 10 K 2815/13.A - juris Rn 50; VG Frankfurt, Urteil vom 12. August 2013 - 8 K 2202/13. F.A - juris Rn 15). Die Wehrdienstentziehung wird in Eritrea, das nach wie vor vom "Primat des Militärs" beherrscht wird, nicht nur als Wehrdienstdelikt angesehen, sondern als Ablehnung des eritreischen Staatswesens überhaupt gewertet und die harte strafrechtliche Ahndung weist eindeutig einen politischen Sanktionscharakter auf. Das Regime bestraft jeden, der versucht, das Land ohne Genehmigung zu verlassen (VG Frankfurt, Urteil vom 7. Juli 2015, 8 K 3817/13.F.A).
Der Klägerin droht im Übrigen auch wegen ihrer Zugehörigkeit zur Pfingstlergemeinde politische Verfolgung in Eritrea. Kleineren Religionsgemeinschaften ist es in Eritrea nicht erlaubt, Gottesdienste zu feiern. Auch zu Hause ist die Religionsausübung insoweit verboten. Hiervon geht die Beklagte auch im angefochtenen Bescheid aus (vgl. auch AA, Lagebericht Eritrea vom 25.02.2018). [...]