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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 26.02.2020 - 1 BvL 1/20 - Asylmagazin 4/2020, S. 138 f. - asyl.net: M28171
https://www.asyl.net/rsdb/M28171
Leitsatz:

Sozialleistungen für EU-Staatsangehörige bei nicht bestandskräftiger Verlustfeststellung:

1. Solange die behördliche Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts noch nicht bestandskräftig ist (hier: wegen anhängiger Klage vor dem VG), ist nicht ausgeschlossen, dass ein Aufenthaltsrecht doch besteht und daher der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII nicht anwendbar ist. Das vorlegende SG hat nicht hinreichend dargelegt, dass das geltende Recht dieser Auslegung entgegensteht.

2. Auch hat das SG nicht hinreichend dargelegt, weshalb die Ausnahme vom Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 7 SGB XII bei 5-jährigem Aufenthalt nicht anwendbar sei. Da die Verlustfeststellung noch nicht bestandskräftig ist, kann sie der Erfüllung der Fünfjahresfrist nicht entgegenstehen.

3. Daher kann offen bleiben, ob das SG hinreichend dargelegt hat, weshalb die Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII nicht angewandt wurde, wonach Überbrückungsleistungen über einen Monat hinaus erbracht werden können. Im vorliegenden Fall hätte ggf. dargelegt werden müssen, inwiefern konkrete Bindungen (hier: Betreuung eines Familienmitglieds mit einer Schwerbehinderung in einer Werkstatt) der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht entgegenstehen und eine besondere Härte rechtfertigen können.

(Leitsätze der Redaktion; Ablehnung der Vorlage des SG Darmstadt - S 17 SO 191/19 ER - als unzulässig)

Anmerkung:

Schlagwörter: Unionsbürger, Leistungsausschluss, SGB II, freizügigkeitsberechtigt, Verlust des Freizügigkeitsrechts, SGB XII, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Arbeitssuche, Existenzminimum, existenzsichernde Leistungen, Sozialhilfe, Sozialrecht, Sozialleistungen, BSG, BVerfG, Bundesverfassungsgericht, Verfassungsmäßigkeit, Rechtskraft, Bestandskraft, Härtefall, Verlustfeststellung, Feststellungsbescheid, Feststellung, vorläufiger Rechtsschutz, Begründungserfordernis, Zulässigkeit,
Normen: SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, GG Art. 1 Abs. 1 S. 1, GG Art. 20 Abs. 1, GG 100 Abs. 1 S. 1, SGB XII § 23 Abs. 3 S. 7, SGB XII § 23 Abs. 3 S. 6, BVerfGG § 80 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

b) Dem genügen die Darlegungen des Sozialgerichts hier nicht. Die Vorlage übergeht mehrere Fragen zur Verfassungswidrigkeit und zur Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm, die für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar sind und ohne deren Klärung das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren nicht entscheiden kann. Das vorlegende Gericht macht geltend, § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII sei verfassungswidrig, soweit Unionsbürger vollständig von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen seien, bei denen das Nichtbestehen der Freizügigkeit zwar festgestellt, diese Feststellung aber noch nicht in Bestandskraft erwachsen ist. Das Sozialgericht legt jedoch nicht hinreichend dar, dass das geltende Recht in der hier konkret zu entscheidenden Situation einer Auslegung entgegensteht, nach der vor Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit die Leistung nicht ausgeschlossen ist.

aa) § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII knüpft nicht ausdrücklich an die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit, sondern nur an das Nichtbestehen eines Aufenthaltsrechts an. Ist schon nicht vom Nichtbestehen der Freizügigkeit die Rede, lässt der Wortlaut der Regelung für sich genommen erst recht nicht darauf schließen, dass der Leistungsausschluss vor Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit gelten soll. Sollte diese dem Wortlaut nicht ohne Weiteres zu entnehmende Auslegung durch das Fachrecht dennoch vorgegeben sein, hätte das Sozialgericht dies dem Bundesverfassungsgericht im Einzelnen darlegen müssen. Dies ist nicht geschehen. [...]

Ungeachtet der Frage, ob diese Ausführungen für sich genommen ausreichend wären, ist es in einem Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, anhand der Erläuterungen des vorlegenden Gerichts zu anderen Regelungen eigenständig die komplexe fachrechtliche Interpretation der eigentlich zur Prüfung gestellten Regelung zu erarbeiten. Das gilt erst recht, wenn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wie hier, unter Zeitdruck zu treffen ist, weil den Antragstellern derzeit - nicht zuletzt wegen Verneinung eines Härtefalls (unten, cc) - existenzsichernde Leistungen verwehrt werden.

bb) Das vorlegende Gericht macht indessen schon nicht hinreichend deutlich, warum es trotz der Klage gegen die Verlustfeststellung zwingend an der Anwendung der Rückausnahme nach § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII gehindert ist. Zu § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII konstatiert das vorlegende Gericht lediglich, ein solcher Anspruch bestehe wegen der Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit nicht. [...] Es legt aber auch in diesem Zusammenhang nicht hinreichend dar, inwiefern es an einer Auslegung des einfachen Rechts gehindert wäre, nach der eine Verlustfeststellung (§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU) der Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II beziehungsweise § 23 Abs. 3 Satz 7 SBG XII bei Erfüllung der Fünfjahresfrist jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn die Verlustfeststellung nicht bestandskräftig ist. [...]

Zur Begründung seiner Annahme der Verfassungswidrigkeit hätte das Gericht aber vielmehr gerade umgekehrt darlegen müssen, was einer Gesetzesauslegung zwingend entgegensteht, nach der eine Verlustfeststellung die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht sperrt, solange diese Verlustfeststellung nicht bestandskräftig ist. Soweit das vorlegende Gericht sich an einer solchen Auslegung durch die von ihm angenommene, auch die Sozialgerichte bindende Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes über die Verlustfeststellung gehindert sehen sollte, genügen angesichts davon abweichender Rechtsprechung mehrerer Landessozialgerichte (vgl. nur Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Mai 2019 - L 8 SO 109/19 B ER -, juris, Rn. 9 m.w.N.) die Ausführungen im Vorlagebeschluss nicht, um tragfähig zu belegen, dass § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII bereits bei nicht bestandskräftiger Verlustfeststellung unanwendbar ist.

cc) Es kann danach offenbleiben, ob das vorlegende Gericht hinreichend deutlich gemacht hat, warum es an der Anwendung der Härtefallklausel des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII gehindert ist. Es begründet, weshalb es die Auslegung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (Urteil vom 11. Juli 2019 - L 15 SO 181/18 -, juris; beim Bundessozialgericht anhängiges Revisionsverfahren - B 8 SO 7/19 R -), im Fall fehlender vollziehbarer Ausreisepflicht generell von einem Härtefall auszugehen, als unzulässige Auslegung ablehnt. Ob es darüber hinaus hätte darlegen müssen, inwiefern nicht im Einzelfall konkrete Bindungen an das Bundesgebiet - im Fall der Antragstellerin zu 1) etwa wegen ihres schwerbehinderten Sohnes, der in Deutschland in einer Werkstatt für behinderte Menschen betreut wird - angesichts fehlender Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht die Annahme einer besonderen Härte rechtfertigen können, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. [...]