EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 10.02.2000 - C-340/97 - Nazli ./. Stadt Nürnberg - asyl.net: M28216
https://www.asyl.net/rsdb/M28216
Leitsatz:

Fortbestehen des assoziationsrechtlichen Status:

1. Kein Verlust der Arbeitnehmereigenschaft nach dem Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei wegen Unterbrechung der Erwerbstätigkeit durch Untersuchungshaft, auf die die Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe und die Ausweisung aus generalpräventiven Gründen folgt.

2. Eine Ausweisung darf nicht allein auf generalpräventive Gründe gestützt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt, Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt, Türkischer Arbeitnehmer, Untersuchungshaft, Straftat, Generalpräventiver Zweck, Ausweisung, Haft, Bewährung, türkische Staatsangehörige,
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 6 Abs. 1, ARB Nr. 1/80 Art. 14
Auszüge:

[...]

26 Aus dem Vorlagebeschluß geht hervor, daß das nationale Gericht sich fragt, ob der Kläger während seiner Untersuchungshaft weiterhin im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehört habe, obwohl er während der Dauer dieser Haft keine Erwerbstätigkeit ausgeübt und diesem Markt nicht zur Verfügung gestanden habe. Dies erscheine um so zweifelhafter, als der Kläger wegen der der Untersuchungshaft zugrunde liegenden Straftat tatsächlich verurteilt worden sei. [...]

36 Wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, führt daher nicht jede Abwesenheit des türkischen Arbeitnehmers vom Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats automatisch zum Verlust der aufgrund von Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworbenen Rechte.

37 Zwar hat ein türkischer Staatsangehöriger nicht das Recht, im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu verbleiben, wenn er das Rentenalter erreicht oder einen Arbeitsunfall erlitten hat, der zu seiner vollständigen und dauernden Unfähigkeit geführt hat, weiterhin eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben. In solchen Fällen ist davon auszugehen, daß der Betroffene den Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaats endgültig verlassen hat, so daß das von ihm begehrte Aufenthaltsrecht keinerlei Bezug zu einer — und sei es künftigen — Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis aufweist (vgl. Urteil vom 6. Juni 1995 in der Rechtssache C-434/93, Bozkurt, Slg. 1995, I-1475, Randnrn. 39 und 40).

38 Wie der Gerichtshof jedoch entschieden hat, gilt Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht nur für einen erwerbstätigen, sondern auch für einen arbeitsunfähigen türkischen Arbeitnehmer, sofern die Arbeitsunfähigkeit nur vorübergehend ist, also nicht die Fähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt, sein Recht auf Beschäftigung aus dem genannten Beschluß weiterhin auszuüben, wenn auch nach einer zeitweiligen Unterbrechung seines Arbeitsverhältnisses (vgl. Urteil Bozkurt, Randnrn. 38 und 39).

39 Auch wenn das Aufenthaltsrecht als Folge aus dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung also nicht unbegrenzt gewährt wird, führt doch nur die endgültige Beschäftigungslosigkeit des Arbeitnehmers zwangsläufig zum Verlust der durch Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehenen Rechte. [...]

41 Nach alledem ist die vorübergehende Unterbrechung des Beschäftigungszeitraums eines türkischen Arbeitnehmers wie des Klägers während seiner Untersuchungshaft als solche nicht geeignet, diesem seine unmittelbaren Rechte aus Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 zu nehmen, sofern er innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach seiner Haftentlassung wieder eine Beschäftigung findet.

42 Denn die vorübergehende Abwesenheit aufgrund einer solchen Haft stellt die weitere Teilnahme des Betroffenen am Erwerbsleben keineswegs in Frage, wie im übrigen das Ausgangsverfahren zeigt, aus dem sich ergibt, daß der Kläger nach seiner Haftentlassung eine Arbeit gesucht und tatsächlich wieder eine feste Anstellung gefunden hat.

43 Daher können die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einem türkischen Arbeitnehmer wie dem Kläger, der länger als vier Jahre ununterbrochen eine ordnungsgemäße Beschäftigung ausgeübt hat, sein Aufenthaltsrecht nicht mit der Begründung absprechen, daß er während seiner Untersuchungshaft die Voraussetzung der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats nicht mehr erfüllt habe. [...]

45 Schließlich berührt der Umstand, daß der Betroffene anschließend wegen des seiner Untersuchungshaft zugrunde liegenden Sachverhalts rechtskräftig verurteilt worden ist, nicht die vorstehend dargelegte Auffassung, daß ein türkischer Arbeitnehmer wie der Kläger den regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats während der dreizehn Monate, die er in Untersuchungshaft verbracht hat, nicht endgültig verlassen hat und daß die fehlende Ausübung einer Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis während dieser Zeit ihm nicht die Rechte in bezug auf Beschäftigung und Aufenthalt nimmt, die ihm unmittelbar aus Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 zustehen, so daß er weiterhin sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis gemäß dieser Vorschrift ausüben kann. [...]

47 Eine solche strafrechtliche Verurteilung führt zu keiner — auch nicht vorübergehenden — Abwesenheit des Betroffenen vom Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats.

48 Wie die französische Regierung und die Kommission zu Recht geltend gemacht haben und der Generalanwalt in Nummer 49 seiner Schlußanträge festgestellt hat, soll die Strafaussetzung zur Bewährung überdies die soziale Wiedereingliederung des Verurteilten, insbesondere durch die Ausübung eines Berufes ermöglichen. Insofern wäre es widersprüchlich, davon auszugehen, daß die Verurteilung eines türkischen Arbeitnehmers zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung insgesamt zur Bewährung ausgesetzt worden ist, den Betroffenen vom Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats ausschließt.

49 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, daß ein türkischer Staatsangehöriger, der länger als vier Jahre ununterbrochen eine ordnungsgemäße Beschäftigung in einem Mitgliedstaat ausgeübt hat, aber anschließend länger als ein Jahr wegen einer Straftat in Untersuchungshaft gehalten wurde, für die er später rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung insgesamt zur Bewährung ausgesetzt wurde, nicht wegen der fehlenden Ausübung einer Beschäftigung während seiner Untersuchungshaft aufgehört hat, dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats anzugehören, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach seiner Haftentlassung wieder eine Beschäftigung findet. Er hat dort Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, um weiterhin sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis gemäß Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 ausüben zu können. [...]

59 Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, daß das Gemeinschaftsrecht der Ausweisung eines Angehörigen eines Mitgliedstaats entgegensteht, die auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützt wird, d. h., die zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird (vgl. insbesondere Urteil vom 26. Februar 1975 in der Rechtssache 67/74, Bonsignore, Sig. 1975, 297, Randnr. 7). So verhielte es sich insbesondere, wenn die Ausweisung aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung automatisch verfügt wird, ohne daß das persönliche Verhalten des Täters oder die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung berücksichtigt wird (Urteil Calfa, Randnr. 27).

60 Wie bereits in Randnummer 56 dieses Urteils ausgeführt, setzt Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den zuständigen nationalen Behörden Grenzen, wie sie für eine solche Maßnahme gegenüber einem Angehörigen eines Mitgliedstaats gelten.

61 Daher können einem türkischen Staatsangehörigen die ihm unmittelbar aus dem Beschluß Nr. 1/80 zustehenden Rechte nur dann im Wege einer Ausweisung abgesprochen werden, wenn diese dadurch gerechtfertigt ist, daß das persönliche Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet.

62 Im Ausgangsverfahren ergibt sich aber sowohl aus den Gründen des Vorlagebeschlusses als auch aus dem Wortlaut der zweiten Vorlagefrage eindeutig, daß der einzige Grund, der die gegen den Kläger gerichtete Ausweisungsmaßnahme nach Auffassung des nationalen Gerichts rechtfertigen könnte, der Zweck der Generalprävention ist, der allein auf Abschreckung anderer Ausländer gerichtet ist.

63 In Anbetracht der Grundsätze, die im Rahmen der Freizügigkeit der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzenden Arbeitnehmer gelten und die entsprechend auf die türkischen Arbeitnehmer anzuwenden sind, denen die in dem Beschluß Nr. 1/80 anerkannten Rechte zustehen, ist folglich eine Regelausweisung, die aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung für eine bestimmte Straftat zum Zweck der Generalprävention verfügt wird, nicht mit Artikel 14 Absatz 1 dieses Beschlusses vereinbar.

64 Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, daß Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, daß er der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der ein unmittelbar durch diesen Beschluß gewährtes Recht innehat, entgegensteht, wenn diese Maßnahme aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird, ohne daß das persönliche Verhalten des Betroffenen konkreten Anlaß zu der Annahme gibt, daß er weitere schwere Straftaten begehen wird, die die öffentliche Ordnung im Aufnahmemitgliedstaat stören könnten. [...]