EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 11.11.2004 - C-467/02 - Cetinkaya ./. Land Baden-Württemberg - asyl.net: M28220
https://www.asyl.net/rsdb/M28220
Leitsatz:

Assoziationsrechtliche Regeln für die Ausweisung:

1. Die Rechte des Art. 7 des Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei sind auch auf in Deutschland geborene Familienangehörige anwendbar.

2. Die Ausweisung eines in Deutschland geborenen, mittlerweile volljährigen Kindes eines ehemaligen türkischen Arbeitnehmers (bis zum Rentenalter) kann nur nach den Voraussetzungen des Art. 14 des Assoziationsratsbeschlusses EWG/Türkei erfolgen.

3. Bei der Abwägung der Interessen sind auch Tatsachen zu berücksichtigen, die nach der letzten Entscheidung der zuständigen Behörde eingetreten sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Türkischer Arbeitnehmer, Kind, Familienangehörige, Arbeitnehmerbegriff, Ausweisung, Drogendelikt, Drogentherapie, Therapie, Änderung der Sachlage, tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt, ordnungsgemäße Beschäftigung,
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 14, ARB Nr. 1/80 Art. 7,
Auszüge:

[...]

18 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht Aufschluss darüber erhalten, ob Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass er die Situation einer volljährigen Person, die Kind eines dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers ist, erfasst, obwohl diese im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und stets dort gewohnt hat. [...]

20 Diese Frage ist zu verneinen, wie auch in allen vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen dargelegt worden ist.

21 Dass Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ausdrücklich nur den Fall anführt, dass die Angehörigen des türkischen Arbeitnehmers "die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen", lässt nicht den Schluss zu, dass die Verfasser des Beschlusses diejenigen Familienangehörigen von den in dieser Bestimmung genannten Rechten ausschließen wollten, die im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats geboren wurden und deshalb nicht aus Gründen der Familienzusammenführung um eine Genehmigung nachsuchen mussten, zu dem türkischen Arbeitnehmer in den Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen. [...]

29 Aus dem Wortlaut von Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 lässt sich nicht herleiten, dass die darin genannten Familienangehörigen die ihnen durch diese Bestimmung verliehenen Rechte bereits dann wieder verlören, wenn der betreffende Arbeitnehmer zu irgendeinem Zeitpunkt nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehört.

30 Wie der Gerichtshof festgestellt hat, sind die Mitgliedstaaten nicht befugt, den Aufenthalt eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers auch noch nach Ablauf des in Artikel 7 Satz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Dreijahreszeitraums, in dem der Betroffene grundsätzlich eine tatsächliche Lebensgemeinschaft mit diesem Arbeitnehmer führen muss, von Voraussetzungen abhängig zu machen; das gilt erst recht für einen türkischen Migranten, der die Voraussetzungen des Artikels 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllt (vgl. u. a. Urteil vom 16. März 2000 in der Rechtssache C-329/97, Ergat, Slg. 2000, I-1487, Randnrn. 37 bis 39).

31 Was die in Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 genannten Familienangehörigen angeht, die, wie Herr Cetinkaya, nach fünfjährigem ordnungsgemäßem Wohnsitz bei dem Arbeitnehmer gemäß dem zweiten Gedankenstrich dieser Bestimmung ein Recht auf freien Zugang zur Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat erworben haben, folgt daher aus der unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmung nicht nur, dass die Betroffenen hinsichtlich der Beschäftigung ein individuelles Recht aus dem Beschluss Nr. 1/80 herleiten können, sondern die praktische Wirksamkeit dieses Rechts setzt außerdem zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, das ebenfalls auf dem Gemeinschaftsrecht beruht und vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig ist (vgl. u. a. Urteil Ergat, Randnr. 40).

32 Unter diesen Umständen können die durch Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehenen Rechte von dem Familienangehörigen nach drei- oder fünfjährigem Wohnsitz bei dem dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmer auch dann ausgeübt werden, wenn dieser Arbeitnehmer nach diesen Zeiten des Wohnsitzes, etwa weil er seinen Anspruch auf Altersrente geltend gemacht hat, nicht mehr dem Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats angehört. [...]

34 Demgemäß ist auf die erste Frage zu antworten, dass Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass er die Situation einer volljährigen Person, die Kind eines türkischen Arbeitnehmers ist, der dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehört oder angehört hat, erfasst, obwohl diese im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und stets dort gewohnt hat.

Zur zweiten Frage

35 Nach den Ausführungen im Vorlagebeschluss möchte das vorlegende Gericht mit dieser Frage klären, ob es Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zulässt, dass die Rechte, die einem türkischen Staatsangehörigen in der Lage von Herrn Cetinkaya durch diese Bestimmung verliehen werden, nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, der sich eine Drogentherapie anschließt, wegen längerer Abwesenheit vom Arbeitsmarkt beschränkt werden.

36 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes unterliegt das Aufenthaltsrecht als Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung, das den Familienangehörigen des türkischen Arbeitnehmers zusteht, zweierlei Beschränkungen. Zum einen ermöglicht es Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den Mitgliedstaaten, in Einzelfällen bei Vorliegen triftiger Gründe den Aufenthalt des türkischen Migranten in ihrem Hoheitsgebiet zu beschränken, wenn dieser durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend gefährdet. Zum anderen verliert der Familienangehörige, der die Genehmigung erhalten hat, zu einem türkischen Arbeitnehmer in einen Mitgliedstaat zu ziehen, der jedoch das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt, grundsätzlich die Rechtsstellung, die er aufgrund von Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben hatte (Urteil Ergat, Randnrn. 45, 46 und 48).

37 Wie der Generalanwalt in Nummer 40 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, muss die im Urteil Ergat vorgenommene Auslegung von Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 angesichts dessen, dass die Rechtssache Ergat die Situation eines Familienangehörigen betraf, der zu dem Arbeitnehmer in den Aufnahmemitgliedstaat gezogen war, erst recht für die Situation gelten, in der, wie im Ausgangsverfahren, der betreffende Familienangehörige im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurde und dort stets gewohnt hat.

38 Daraus folgt, dass Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass die Rechte, die diese Bestimmung den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, die die Voraussetzung der Mindestwohnzeit erfüllen, verleiht, nur nach Artikel 14 des Beschlusses Nr. 1/80 beschränkt werden können, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit oder weil der Betroffene das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats während eines erheblichen Zeitraums ohne berechtigte Gründe verlassen hat.

39 Mithin ist auf die zweite Frage zu antworten, dass es Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht zulässt, dass die Rechte, die einem türkischen Staatsangehörigen in der Lage von Herrn Cetinkaya durch diese Bestimmung verliehen werden, nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, der sich eine Drogentherapie anschließt, wegen längerer Abwesenheit vom Arbeitsmarkt beschränkt werden. [...]

Zur sechsten Frage [...]

47 Daher haben die nationalen Gerichte in Anbetracht der Grundsätze, die im Rahmen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Angehörige eines Mitgliedstaats sind, gelten und auf türkische Arbeitnehmer, die die durch den Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte in Anspruch nehmen können, übertragbar sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer gegen einen türkischen Staatsangehörigen verfügten Ausweisungsmaßnahme nach der letzten Behördenentscheidung eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für die öffentliche Ordnung darstellen würde.

48 Somit ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Artikel 14 des Beschlusses Nr. 1/80 es den nationalen Gerichten verwehrt, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer gegen einen türkischen Staatsangehörigen verfügten Ausweisungsmaßnahme nach der letzten Entscheidung der zuständigen Behörden eingetretene Tatsachen nicht zu berücksichtigen, die eine auf diese Bestimmung gestützte Beschränkung der Rechte des Betroffenen nicht mehr zulassen würden. [...]