OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.03.2020 - 14 A 2778/17.A - asyl.net: M28221
https://www.asyl.net/rsdb/M28221
Leitsatz:

Kein Familienflüchtlingsschutz bei Volljährigkeit des stammberechtigten Kindes zum Zeitpunkt der letzten Gerichtsverhandlung:

Die Regelung zum Familienflüchtlingsschutz in § 26 Abs. 3 AsylG dient dem Minderjährigenschutz, der nicht mehr gilt, sobald das stammberechtigte Kind volljährig wird. Die Eltern eines während des Asylverfahrens volljährig werdenden Kindes können sich daher nicht auf den Familienflüchtlingsschutz berufen. Dabei ist auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung vor Gericht im Asylverfahren der Eltern und nicht auf den ihrer Asylantragstellung abzustellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Upgrade-Klage, Aufstockungsklage, Familienflüchtlingsschutz, Asylantrag, minderjährig, Volljährigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Flüchtlingsanerkennung, mündliche Verhandlung, Familienschutz,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 26 Abs. 2, AsylG § 26 Abs. 3, AsylG § 26 Abs. 5, AsylG § 77 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Ein Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung ergibt sich auch nicht aus § 26 Abs. 3 und Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG unter dem Gesichtspunkt internationalen Schutzes für Familienangehörige. Nach Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 und 2 dieser Vorschrift werden die Eltern eines minderjährigen ledigen international Schutzberechtigten auf Antrag als Flüchtlinge anerkannt, wenn 1. die Anerkennung des international Schutzberechtigten unanfechtbar ist, 2. die Familie schon in dem Staat bestanden hat, in dem der international Schutzberechtigte politisch verfolgt wird, 3. sie vor der Anerkennung des international Schutzberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben, 4. die Anerkennung des international Schutzberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und 5. sie die Personensorge für den international Schutzberechtigten innehaben. Diese Vorschriften sind für die Kläger zu 1. und 2. als Eltern des ... einschlägig. Für die Klägerin zu 3. als dessen Schwester ist § 26 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG einschlägig, die die entsprechende Anwendbarkeit des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AsylG für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen international Schutzberechtigten anordnet.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Grundsätzlich ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen. Das entspricht auch am ehesten der unionsrechtlichen Lage, die - jedenfalls für die behördliche Entscheidung - auf die Tatsachen und persönlichen Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung abstellt (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a und 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2011/95/EU). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat war ... nicht minderjährig, im Übrigen auch schon nicht im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes über seinen Asylantrag und den der Kläger. Das Gesetz stellt allerdings für bestimmte Fälle hinsichtlich der Merkmale "minderjährig" und "ledig" nicht auf diesen Zeitpunkt ab, sondern auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung der Person, die Familienschutz beansprucht, nämlich bei minderjährigen ledigen Kindern von international Schutzberechtigten (§ 26 Abs. 2, Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG) und bei minderjährigen ledigen Geschwistern von international Schutzberechtigten (§ 26 Abs. 3 Satz 2, Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG). Für die Minderjährigkeit und den Familienstatus des Stammberechtigten, von dem der um Familienschutz nachsuchende Antragsteller (Eltern bzw. Bruder/Schwester) sein Recht ableiten will, sieht das Gesetz eine Vorverlagerung des maßgebenden Zeitpunkts nicht vor. Allerdings wird in Rechtsprechung und Literatur die Meinung vertreten, der maßgebliche Zeitpunkt für die Feststellung der Minderjährigkeit des Stammberechtigten sei - wie in den gesetzlich geregelten Fällen - der Zeitpunkt der Asylantragstellung durch die um Familienschutz nachsuchende Person (vgl. mit weiteren Nachweisen Hailbronner, Ausländerrecht, Loseblattsammlung (Stand: Dezember 2019), § 26 AsylG, Rn. 75 ff., und Epple in: GK-AsylG, Loseblattsammlung (Stand: 124. Lfg.), § 26, Rn. 62, 68; zu den denkbaren maßgeblichen Zeitpunkten bei subsidiärem Schutz des Stammberechtigten s. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 15.8.2019 - 1 C 32.18 -, juris).

Angesichts des Schweigens des Normgebers hinsichtlich eines anderen maßgeblichen Zeitpunkts als des der mündlichen Verhandlung bei gleichzeitiger abweichender Regelung für andere Fälle in derselben Norm erscheint dies nicht richtig. Es ist auch dem Zweck nach nicht geboten. Während es in den Fällen der ausdrücklich anderweitigen Regelung um die Wahrung der Rechtsstellung der um Familienschutz nachsuchenden minderjährigen Person vor den Zufälligkeiten der Bearbeitung des Asylantrags geht, wenn auf deren Minderjährigkeit im Zeitpunkt ihres Asylantrags abgestellt wird (so ist etwa auch für den ausländerrechtlichen Anspruch des unbegleiteten Minderjährigen auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern auf den Zeitpunkt seines Asylantrags abzustellen, vgl. EuGH, Urteil vom 12.4.2018 - C-550/16 -, juris, Rn. 39 ff.), soll hier eine Festschreibung des Alters der stammberechtigten Person auf den Zeitpunkt des Asylantrags der um Familienschutz nachsuchenden Person erfolgen. Das ist aber lediglich ein allgemeines anspruchbegründendes Merkmal für diese Person. Es besteht kein Grund, dieses Merkmal anders zu behandeln als etwa den Umstand politischer Verfolgung, der nicht zum Anspruch auf Flüchtlingsschutz führt, wenn er zwar im Zeitpunkt der Asylantragstellung, aber nicht mehr im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegt. Insbesondere der Gesichtspunkt der Wahrung des Familienverbands (Art. 23 der Richtlinie 2011/95/EU) zwingt nicht zu einer solchen Auslegung. Denn in § 26 Abs. 3 AsylG geht es um Minderjährigenschutz (vgl. auch Erwägungsgrund 18 der Richtlinie 2011/95/EU), der hier wegen der Volljährigkeit des stammberechtigten ... nicht mehr Platz greift.

Daher liegt hinsichtlich des Zeitpunkts, auf den beim Merkmal der Minderjährigkeit des Stammberechtigten in § 26 Abs. 3 AsylG abzustellen ist, keine durch Auslegung zu schließende Lücke, sondern ein beredtes Schweigen vor. Die in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat betonte allgemeine Billigkeitserwägung, dass Verfahrenslaufzeiten und damit einhergehende Veränderungen im Alter von Beteiligten nicht zu Lasten von Asylantragstellern gehen sollen, rechtfertigt es nicht, dass das Gericht die gesetzgeberische Entscheidung, in zwei ausgewählten Fällen die Minderjährigkeit auf einen vom Regelfall abweichenden Zeitpunkt festzuschreiben, auf andere, vom Gesetz nicht erfasste Fälle ausdehnt. Ob Missbrauchsfälle, in denen die Behörde das Verfahren bis zum Erreichen der Altersgrenze zur Verhinderung eines Familienasylanspruchs verzögert, anders zu behandeln wären, kann dahinstehen. Für einen Missbrauch gibt es angesichts des Verfahrensablaufs keinen Anhalt. Das Verfahren aller Beteiligten ist binnen zehn Monaten nach Einreise abgeschlossen worden.

Angesichts der Maßgeblichkeit der Rechtslage im Entscheidungszeitpunkt für das Merkmal der Minderjährigkeit des Stammberechtigten kommt es somit nicht mehr darauf an, ob statt auf die förmliche Asylantragstellung der um Flüchtlingsschutz nachsuchenden Person nach § 14 AsylG sogar auf die Meldung als Asylsuchender (§ 63a Abs. 1 Satz 1 AsylG) abzustellen ist, wie die Kläger meinen.

Unabhängig vom Vorstehenden besteht der Klageanspruch aber auch deshalb nicht, weil die allgemeine Voraussetzung des § 26 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG fehlt, dass es sich um Eltern bzw. Geschwister minderjähriger lediger international Schutzberechtigter handelt. Der Sohn bzw. Bruder ... war nie ein minderjähriger lediger international Schutzberechtigter und ist es auch heute nicht, sondern er war nur ein minderjähriger lediger Asylantragsteller, dann ein erwachsener lediger Asylantragsteller und schließlich ein erwachsener lediger international Schutzberechtigter, was er noch heute ist. Wenn für die Minderjährigkeit des Stammberechtigten schon auf einen früheren Zeitpunkt als den der mündlichen Verhandlung abgestellt werden soll, muss gleiches für das Merkmal "Asylberechtigter" in § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG bzw. "international Schutzberechtigter" in § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG gelten, denn es geht um dessen Minderjährigkeit. Es wäre eine willkürliche Ausweitung des Anspruchs auf Familienschutz, wenn die drei Merkmale des Stammberechtigten, nämlich minderjährig, ledig und asylberechtigt bzw. international schutzberechtigt, nur irgendwann einmal jeweils für sich zwischen Antragstellung des um Familienschutz Nachsuchenden (oder gar nur zwischen dessen Meldung als Asylsuchender) und mündlicher Verhandlung vorgelegen haben müssen, nie aber gleichzeitig. Eine solche verselbständigende Atomisierung einzelner Tatbestandselemente würde sich nicht nur vom Wortlaut, sondern auch vom gesetzgeberischen Ziel lösen, den Familienverband zwischen minderjährigem ledigem international Schutzberechtigten und seinen Eltern bzw. Geschwistern zu wahren (so wohl auch Marx, AsylG, 10. Aufl., § 26, Rn. 36, der fordert, dass - im Zeitpunkt der Antragstellung der um Familienschutz nachsuchenden Person - in der Person des Stammberechtigten die Anspruchsvoraussetzungen minderjährig, ledig und unanfechtbar als Statusberechtigter anerkannt vorliegen müssten).

Dieser Auslegung kann nicht entgegengehalten werden, dass ... auch schon vor Anerkennung durch das Bundesamt international schutzberechtigt gewesen sei. Daran könnte man denken, da die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein deklaratorischer Akt ist (21. Erwägensgrund der Richtlinie 2011/95/EU). Das liegt aber fern, da das Gesetz für das Familienasyl gerade auf die Anerkennung und sogar auf deren Unanfechtbarkeit, nicht bloß auf den Anspruch auf Anerkennung abstellt, wie im Übrigen auch das europäische Recht, wie später ausgeführt wird.

Diese Auslegung ist auch mit europäischem Recht vereinbar. Nach Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 der Richtlinie genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist. Bei diesen Leistungen handelt es sich um einen Aufenthaltstitel, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss (Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU). Weiter besteht nach Art. 25 der Richtlinie 2011/95/EU ein Anspruch auf einen Reiseausweis - wie im Anhang zur Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehen - für Reisen außerhalb Deutschlands. Nach Art. 26 der Richtlinie 2011/95/EU besteht ein näher geregelter Anspruch auf Zugang zur Beschäftigung, nach Art. 27 auf Zugang zu Bildung, nach Art. 28 auf Zugang zu Verfahren für die Anerkennung von Befähigungsnachweisen, nach Art. 29 auf Sozialleistungen, nach Art. 30 auf medizinische Versorgung, nach Art. 32 auf Zugang zu Wohnraum und nach Art. 34 auf Zugang zu Integrationsmaßnahmen. Nach Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU wird Freizügigkeit innerhalb eines Mitgliedstaats gewährt, und nach Art. 35 kann Personen, die zurückkehren möchten, Unterstützung gewährt werden. Schließlich gibt es noch Sonderrechte für unbegleitete Minderjährige nach Art. 31 der Richtlinie 2011/95/EU. Die Richtlinie verpflichtet also die Mitgliedstaaten nicht etwa, zur Wahrung des Familienverbands den abgeleitet Berechtigten ebenfalls Flüchtlingsstatus zu gewähren, sondern lediglich, ihnen nach nationalem Verfahrensrecht näher bezeichnete Rechte einzuräumen, wie sie auch anerkannte Flüchtlinge genießen.

Die Kläger machen schon nicht geltend, dass ihnen als subsidiär schutzberechtigten Ausländern solche Rechte überhaupt oder jedenfalls einzelne vorenthalten würden. Selbst wenn dem so sein sollte, wäre die Beklagte zwar nach der Richtlinie verpflichtet, ihnen diese einzuräumen, wenn die Kläger die Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU erfüllen. Zur Erfüllung des eingeklagten Anspruchs auf Anerkennung als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, die sie nach den obigen Ausführungen nicht sind, verpflichtet die Richtlinie 2011/95/EU aber weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck nach. Die Richtlinie bezweckt nur die Gewährung näher bezeichneter Rechtspositionen.

Unabhängig davon liegen aber auch die Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU nicht vor. Zu den Familienangehörigen zählen gemäß Art. 2 Buchst. j, dritter Spiegelstrich der Richtlinie 2011/95/EU Vater und Mutter, die für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich sind, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist. Das war nie der Fall, da dem minderjährigen ... internationaler Schutz nicht zuerkannt worden ist und er, als ihm internationaler Schutz zuerkannt worden ist, nicht minderjährig war. Diese unionsrechtliche Lage spricht auch gegen eine Auslegung des Begriffs des international Schutzberechtigten in § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG im Sinne eines bloßen Innehabens eines Anspruchs auf internationalen Schutzes schon im Vorfeld der Zuerkennung. Die Richtlinie stellt bei der Definition des Familienangehörigen in Art. 2 Buchst. j, dritter Spiegelstrich, gerade nicht auf eine Person ab, die einen Anspruch auf internationalen Schutz hat oder die international schutzberechtigt ist, sondern auf eine Person, "der internationaler Schutz zuerkannt worden ist", somit auf den Akt der Anerkennung. Gleiches gilt für die Norm zur Wahrung des Familienverbandes in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie. [...]