VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 29.01.2020 - A 4 K 3531/18 (Asylmagazin 9/2020, S. 309) - asyl.net: M28240
https://www.asyl.net/rsdb/M28240
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für nigerianischen Jungen aufgrund drohender ritueller Zwangsbeschneidung :

"1. Einer männlichen Person ist bei einer drohenden rituellen Zwangsbeschneidung in Nigeria zwar mangels diskriminierender Wirkung dieser Handlung nicht die Flüchtlingseigenschaft, jedoch aufgrund der drohenden schwerwiegenden Folgen der subsidiäre Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 AsylG zuzuerkennen, wenn sie sich der rituellen Beschneidung nicht entziehen kann.

2. Einer alleinerziehenden Mutter eines autistischen Kindes und eines weiteren Kindes unter einem Jahr steht ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu, da sie aufgrund des hohen Betreuungsbedarfs keiner Erwerbstätigkeit zur Sicherung des Existenzminimums nachgehen kann, sofern ihr keine familiäre Unter­stützung zuteil wird."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Nigeria, alleinerziehend, Autismus, Behinderung, Beschneidung, Genitalverstümmelung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Mann, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot, geschlechtsspezifische Verfolgung, Diskriminierung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

24 bb. Aber auch die für den Kläger zu 2. geltend gemachte Bedrohung der (rituellen) Zwangsbeschneidung durch die Familienangehörigen stellt keinen Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3a AsylG dar. Denn die dem Kläger drohende Beschneidung (siehe hierzu auch weiter unten b.) wirkt nicht diskriminierend und kann mithin keine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung darstellen.

25 Zwar kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Nach § 3c Nr. 3 AsylG kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, der Ausländer ist auf internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG zu verweisen. Eine Zwangsbeschneidung stellt eine an das Merkmal des Geschlechts anknüpfende Verfolgung einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 a. E. AsylG dar. Anknüpfungspunkt der Verfolgungshandlung ist das mit der Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht verbundene Vorhandensein männlicher Geschlechtsorgane.

26 Allerdings ist es den gesetzlichen Regelungen der §§ 3 ff. AsylG immanent, dass eine Verfolgungshandlung nur dann vorliegt, wenn diese drohende (Verfolgungs-)Handlung zielgerichtet auf Ausgrenzung und Herabwürdigung gerichtet ist (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25.03.2019 - A 4 S 335/19 -, juris Rn 33).

27 Aus den Erkenntnismitteln lässt sich entnehmen, dass die Beschneidung männlicher Personen entweder aus hygienischen Gründen oder rituell zur Integration in die Gesellschaft durchgeführt wird. Nach der Beschneidung gehören die Beschnittenen zu den "Männern" und werden als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft behandelt. Nicht beschnitten zu sein, gilt als Tabu, unzivilisiert und unkultiviert (ACCORD, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 13.02.2019, S. 1; vgl. a. AA, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 02.04.2019, S. 2). Dies zeigt sich v.a. auch darin, dass die Beschneidungsrate bei Männern bei 80 % und mehr liegt (ACCORD, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 13.02.2019, S. 2 ff.; AA, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 02.04.2019, S. 1).

28 Dieses Ergebnis steht auch nicht in einem Wertungswiderspruch zu der vergleichbaren Problematik der weiblichen Beschneidung. Denn bei der weiblichen Beschneidung wird nicht bezweckt, die Frau in die Gesellschaft aufzunehmen, sondern sie als Objekt herabgewürdigt. [...]

32 Dem Kläger zu 2. droht ein ernsthafter Schaden aufgrund der zu befürchtenden rituellen Beschneidung durch seine Familienangehörigen, § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 AsylG. [...]

34 Gleiches gilt vorliegend für die drohende rituelle Zwangsbeschneidung. Die Folgen einer rituellen Zwangsbeschneidung sind schwerwiegend und damit unmenschlich. Es handelt sich um einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des zu Beschneidenden. Aus dem Bericht von ACCORD folgt, dass dem zu Beschneidenden Folgen wie exzessive Blutungen, Infektionen, Schwierigkeiten beim Urinieren bis hin zu einer bleibenden Entstellung des Penis drohten. Dabei werden kleinere Komplikationen wie eine redundante Vorhaut, Narben und penile Verwachsungen als normal akzeptiert, da sie keine Auswirkung auf die sexuelle Leistung hätten. Eine medizinische Behandlung erfolgt nur selten. Allerdings besteht auch die Gefahr weitere Komplikationen, welche zwar gesellschaftlich nicht akzeptiert sind, jedoch auch auftreten. So können als Folgen neben den oben bereits beschriebenen auch urethkrokutane Fisteln, Drüsenverletzungen, Implantationszysten, ein proximales Verrutschen des Ring-Elements der Plastibell-Vorrichtung sowie glanduläre Amputationen, Infektionsübertragungen, örtliche Wundinfektionen und penopubische Verwachsungen auftreten (ACCORD, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 13.02.2019, S. 8 ff.). Bei rituellen Beschneidungen drohen mithin schwerste Verletzungen, die unter Umständen sogar tödlich verlaufen können (AA, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 13.02.2019, S. 3).

35 Nicht die erforderliche Schwere und damit die Voraussetzungen erfüllt hingegen die nicht rituelle Beschneidung, die von medizinischem Fachpersonal unter hygienisch akzeptablen Bedingungen durchgeführt wird, da dabei die Gefahr der oben genannten Verletzungen und Beschwerden nahezu ausgeschlossen ist. Diese stellt in Nigeria den Regelfall dar. In Nigeria werden derzeit 55,9 % der männlichen Beschneidungen durch Krankenpfleger, 35,1 % durch Ärzte und lediglich 9 % durch traditionelle Beschneider vorgenommen (ACCORD, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 13.02.2019, S. 3).

36 bb. Die Gefahr Opfer einer solchen rituellen Beschneidung mit den entsprechenden schwerwiegenden Folgen, verübt durch die Familie, zu werden, konnte der Kläger zu 2. bzw. dessen Mutter, die Klägerin zu 1. glaubhaft machen. [...]

38 Aufgrund der (insoweit) glaubhaften Aussage verdichtet sich die Gefahr, Opfer einer rituellen Zwangsbeschneidung zu werden, im vorliegenden Fall derart, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit eines ernsthaften Schadens vorliegt. Die Klägerin zu 1. hat glaubhaft vorgetragen, dass ihre Familie nur eine rituelle Beschneidung vornehmen wolle, so dass davon auszugehen ist, dass bei einer Rückkehr des Klägers zu 2. in seine Heimatregion eine rituelle Beschneidung durchgeführt werden würde. Insofern irrelevant ist damit die allgemein existierende und an sich recht niedrige Quote einer rituellen Beschneidung in neun von 100 Fällen (siehe hierzu bereits oben). Aus den Erkenntnismitteln ergibt sich zudem, dass bei den Edo, denen die Kläger zugehörig sind, entsprechende Beschneidungen zwischen der ersten und vierten Woche (AA, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 02.04.2019, S. 3) bzw. dem dritten und siebten Lebensjahr vorgenommen werden und eine rituelle Beschneidung nicht unüblich ist (ACCORD, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 13.02.2019, S. 6 f.), so dass der Kläger zu 2. bei einer Rückkehr einer solchen Praxis anheimfallen würde. Der erkennende Richter geht davon aus, dass mithin jedenfalls bis zum Erreichen des siebten Lebensjahres eine rituelle Beschneidung vorgenommen wird. [...]

40 cc. Die Familie des Klägers ist tauglicher Verfolger. Nach § 3c Nr. 3 AsylG kann die Verfolgung vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Aus den oben genannten Erkenntnismitteln ergibt sich, dass der Staat dem Kläger zu 2. keinen Schutz vor seiner Familie bieten kann, da auch die rituelle Beschneidung von Männern in Nigeria als üblich angesehen wird. [...]