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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 28.11.2018 - B 14 AS 47/17 R - asyl.net: M28262
https://www.asyl.net/rsdb/M28262
Leitsatz:

Kein Anspruch auf Kostenübernahme für regelmäßige Besuche bei der Ehefrau in China, solange nicht alle Möglichkeiten zur Familienzusammenführung in Deutschland ausgeschöpft wurden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: SGB II, Sozialrecht, Besuchsreise, Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, Kostenübernahme, Härtefall,
Normen: GG Art. 6, GG Art. 1, SGB II § 21 Abs. 6, SGB II § 20 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

14 4. Anders nicht gedeckte und nicht nur einmalige Aufwendungen zum Besuch eines Ehepartners im Ausland können entgegen der Auffassung des LSG in einer Sondersituation einen Härtefallmehrbedarf begründen.

15 a) Im Ausgangspunkt liegt der Berufungsentscheidung allerdings zutreffend zu Grunde, dass Aufwendungen zur Kontaktpflege unter Angehörigen der Art nach grundsätzlich ausschließlich aus dem Regelbedarf nach § 20 SGB II zu bestreiten sind. [...]

16 b) Lassen sich dem Regelbedarf zugeordnete und nicht nur einmalige Aufwendungen in einer Sondersituation mit zumutbarem internem Ausgleich (zu den Grenzen vgl. BVerfG vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12 ua - BVerfGE 137, 34 = SozR 4-4200 § 20 Nr. 20, RdNr. 117) nicht bestreiten, können zu ihrer Deckung nach der im Anschluss an die Regelsatz-Entscheidung des BVerfG eingeführten Regelung des § 21 Abs. 6 SGB II (zu den Motiven vgl. BT-Drucks 17/1465, S 8 f) iVm § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II zusätzliche existenzsichernde Leistungen zu erbringen sein. [...]

17 c) Dem Grunde nach als besondere Bedarfslage in diesem Sinne anerkannt ist im familiären Kontext die Ausübung des Umgangsrechts getrennt lebender Elternteile mit ihren minderjährigen Kindern. Die Aufrechterhaltung dieser Eltern-Kind-Beziehung hat bereits das BVerwG der notfalls mit Mitteln der Sozialhilfe zu sichernden menschenwürdigen Lebensführung zugerechnet und als persönliches Bedürfnis des täglichen Lebens angesehen, das - anders als die Beziehungen zur sozialen Umwelt, die mit sachgerechten Maßstäben kaum einzugrenzen seien - nicht unter dem Vorbehalt des Vertretbaren stehe (BVerwG vom 18.2.1993 - 5 C 30.89 - BVerwGE 92, 97, 99). [...]

19 d) Entsprechendes gilt - unter Beachtung der Unterschiede zur Ausübung des Umgangsrechts - ebenso für intensive Familienbindungen jenseits der umgangsrechtlichen Eltern-Kind-Beziehung. Auch zwischen Erwachsenen oder im Großeltern-Kind-Verhältnis können verwandtschaftliche Bindungen für die personale Existenz von herausgehobener Bedeutung sein, wie deren besonderer Schutz durch Art. 6 Abs. 1 GG belegt (vgl. dazu nur BVerfG vom 24.6.2014 - 1 BvR 2926/13 - BVerfGE 136, 382 RdNr. 22). [...]

20 e) Eine solche Bedarfslage kommt in Betracht bei einer dem Einfluss des zu Besuchenden entzogenen außergewöhnlichen - bei der Bemessung des Regelbedarfs nicht berücksichtigten (vgl. BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175, 254 = SozR 4-4200 § 20 Nr. 12 RdNr. 207 f) - Situation, in der einem Leistungsberechtigten gemessen am personalen Sicherungszweck des verfassungsrechtlich zu gewährleistenden Existenzminimums unter Berücksichtigung der Intensität der konkreten verwandtschaftlichen Beziehung (vgl. BVerfG vom 24.6.2014 - 1 BvR 2926/13 - BVerfGE 136, 382 RdNr. 23 aE) sowie aller weiterer Umstände des Einzelfalls (zum Umgangsrecht vgl. nur BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R - BSGE 117, 240 = SozR 4-4200 § 21 Nr. 19, RdNr. 21, 23 m.w.N.) ein Verzicht auf die Begegnung mit dem im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG nahen Angehörigen nicht zugemutet werden kann; sei es, um die Beziehung in einer ihrer Bedeutung gerecht werdenden Weise aufrechterhalten oder Beistand leisten zu können. Angenommen werden kann das insbesondere bei erheblichen Notlagen oder einer ungewollten - rechtlich oder tatsächlich nicht änderbaren - räumlichen Trennung familienrechtlich nicht getrennt lebender Eheleute, die über längere Zeit anhält und einen als erheblich anzusehenden Wunsch nach kontinuierlicher Begegnung begründet (vgl. etwa LSG Sachsen-Anhalt vom 22.6.2016 - L 4 AS 196/15 - info also 2017, 30: Regelmäßige Besuche beim dauerhaft in einer stationären Einrichtung untergebrachten Ehemann). [...]

21 5. Aufenthaltsrechtliche Hindernisse für den Nachzug zu deutschen Staatsangehörigen im Bundesgebiet begründen keinen Anlass für Leistungen nach dem SGB II zum Besuch der ausländischen Ehegatten im Ausland. [...]

23 b) Nach dieser Rechtslage sind der Kläger und seine Ehefrau darauf verwiesen, die räumliche Trennung zwischen ihnen durch Betreiben des gesetzlich vorgesehenen Visumverfahrens zu beenden. Können aufenthaltsrechtliche Hindernisse für ein eheliches Zusammenleben im Inland im Visumsverfahren  ausgeräumt werden, besteht schon keine Sondersituation, in der zur Sicherung der personalen Existenz (vgl. oben RdNr. 20) von Verfassungs wegen mit (zusätzlichen) existenzsichernden Leistungen eine Begegnung von Eheleuten im Ausland zu ermöglichen ist. [...]

24 c) Dass nach diesen Maßstäben hier noch ein Härtefallmehrbedarf zur Deckung von nicht nur einmaligen Reiseaufwendungen des Klägers zum Besuch seiner Ehefrau in China bestehen könnte, ist nicht ersichtlich. Anhaltspunkte dafür, dass seine Ehefrau bei den zuständigen Behörden bereits erfolglos ein Visum zum Ehegattennachzug beantragt und im Versagensfall um gerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht hätte, sind weder den Feststellungen des LSG noch dem Vortrag des Klägers zu entnehmen. Sollte die Versagung eines beantragten Nachzugs aufenthaltsrechtlich nicht zu beanstanden sein, stünde auch dies einem Härtefallmehrbedarf entgegen: Soweit seiner Frau nach dem Vorbringen die notwendigen Mittel für den Sprachkundeerwerb fehlen, betrifft das die an Art. 6 Abs. 1 GG zu messenden Anforderungen an das Spracherfordernis beim Ehegattennachzug zu einem deutschen Staatsangehörigen und begründet keinen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen, um dem Kläger eine Begegnung mit seiner Frau in deren Heimatland zu ermöglichen. Soweit schließlich nach der Rechtsprechung des BVerwG das Spracherfordernis beim Ehegattennachzug zu Deutschen dem Visumsbegehren von Sonderfällen abgesehen erst dann nicht mehr entgegengehalten werden darf, wenn zumutbare Bemühungen zum Erwerb der Sprachkenntnisse ein Jahr lang erfolglos geblieben sind (BVerwG vom 4.9.2012 - 10 C 12.12 - BVerwGE 144, 141 RdNr. 28), beansprucht das auch Geltung für den hier geltend gemachten Anspruch zur Ermöglichung persönlicher Begegnungen der Eheleute bis zur Visumserteilung. [...]