VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 10.12.2019 - 9 K 2159/18.A - asyl.net: M28305
https://www.asyl.net/rsdb/M28305
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung aufgrund landesweiter Verfolgung durch die Taliban in Afghanistan:

1. In Afghanistan besteht für Personen, die in irgendeiner Weise die afghanische Regierung oder die internationale Gemeinschaft tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, eine Gefahr der Verfolgung durch die Taliban.

2. Es besteht keine interne Fluchtalternative, da die Taliban sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene agieren und in einigen Fällen eng mit der örtlichen Verwaltung verbunden sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Dolmetscher, Taliban, interne Fluchtalternative, Flüchtlingsanerkennung, nichtstaatliche Verfolgung, USA, Regierung, Vorverfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e
Auszüge:

[...]

Den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln lässt sich entnehmen, dass die Taliban in allen Personen, die in irgendeiner Weise die afghanische Regierung oder die internationale Gemeinschaft tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, Kollaborateure der "Invasoren" sehen, denen Vergeltung angedroht wird. Hierbei gehört es zu einem Grundsatz der Taliban, sowohl die von ihnen im politischen Kampf um die Macht in Afghanistan umkämpften Personen selbst als auch deren Angehörige zum Ziel von Angriffen zu machen. Gleichzeitig lassen die Erkenntnismittel erkennen, dass sich das Vorgehen der Taliban im weitesten Sinne als Auseinandersetzung um die Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen in Afghanistan im gesellschaftlichen und staatlichen Raum verstehen lässt und damit einen öffentlichen Bezug hat. Die Drohungen und gewaltsamen Übergriffe der Taliban sind gegen Leib, Leben oder persönliche Freiheit der jeweils betroffenen Person gerichtet, um deren (vermeintliche) oppositionelle und freiheitliche Einstellung zu bekämpfen. Damit handelt es sich bei den vorliegend in Rede stehenden Übergriffen der Taliban auch nicht nur um privates Unrecht Dritter, sondern um eine politische Auseinandersetzung (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. September 2018, S. 19 ff.). Stichhaltige Gründe, aufgrund derer davon ausgegangen werden könnte, dass der Kläger einer solchen Verfolgungsgefahr im Fall seiner Rückkehr nicht mehr unterliegt, sind nicht er sichtlich. Das Gericht geht - im Gegenteil - davon aus, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Racheakten durch die Taliban aufgrund seiner Tätigkeit rechnen muss. Die Islamische Republik Afghanistan ist erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung der nichtstaatlichen Akteure zu bieten.

Dem Kläger stand und steht auch keine zumutbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung, um bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung der Taliban auszuweichen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger andernorts in Afghanistan vor Nachstellungen durch die Taliban sicher ist. Die Auskunftslage lässt auch nicht den gesicherten Schluss zu, dass die Furcht des Klägers vor Übergriffen unbegründet wäre. Das Misstrauen der Taliban dem Kläger gegenüber wird sich durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik weiter verfestigt haben. Nach den Erkenntnissen des UNHCR ist überdies zu bedenken, dass einige Befehlshaber und bewaffnete Gruppen als Urheber von Verfolgung sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene agieren. In einigen Fällen sind sie eng mit der örtlichen Verwaltung verbunden, während sie in anderen Fällen Verbindungen zu mächtigeren und einflussreichen Akteuren einschließlich auf der zentralen Ebene verfügen und von diesen geschützt werden. Der Staat ist hierbei nicht in der Lage, Schutz vor Gefahren, die von diesen Akteuren ausgehen, zu gewährleisten. Sogar in einer Stadt wie Kabul, die in Viertel eingeteilt ist, wo sich die Menschen zumeist untereinander kennen, bleibt eine Verfolgungsgefahr bestehen, da Neuigkeiten über eine Person, die aus einem anderen Landesteil oder dem Ausland zuzieht, potentielle Akteure einer Verfolgung erreichen können (UNHCR, Auskunft an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 30.11.2009, S. 4). Im Hinblick auf die Frage, ob für den Kläger eine begründete Furcht vor Verfolgung auch außerhalb seiner Herkunftsregion bestünde, kann es auch nicht darauf ankommen, wie hoch möglicherweise eine statistische Wahrscheinlichkeit für eine erneute Verfolgung wäre, sofern sich eine solche überhaupt berechnen ließe. Insofern verbietet es der humanitäre Charakter des Asyls, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher Verfolgung aufzubürden. [...]