OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24.03.2020 - 19 A 4470/19.A - asyl.net: M28309
https://www.asyl.net/rsdb/M28309
Leitsatz:

Malariagefahr begründet kein nationales Abschiebungsverbot für Familie mit Kleinkind aus Nigeria:

Für ein in Europa geborenes Kleinkind unter fünf Jahren besteht allein aufgrund des allgemeinen Risikos, in Nigeria an Malaria zu erkranken, keine ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG begründende Extremgefahr.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Nigeria, Malaria, Kleinkind, Kindersterblichkeit, extreme Gefahrenlage, medizinische Versorgung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Abschiebungsverbot, Abschiebungsverbot, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

b) Für in Europa geborene Kinder bis zum Alter von fünf Jahren ergibt sich ohne Hinzutreten besonderer Umstände allein aus der allgemeinen Gefahr, in Nigeria an Malaria zu erkranken, keine ein Abschiebungsverbot begründende Extremgefahr. Nach Maßgabe der obigen Feststellungen lässt sich im Hinblick auf diese Personengruppe nicht mit der gebotenen hohen Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage annehmen, die das Unterbleiben eines Abschiebungsstopps durch eine politische Leitentscheidung der obersten Landesbehörden nach § 60a AufenthG als Verstoß gegen die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erscheinen ließe und deshalb die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG beseitigen könnte.

Denn die allgemeine Gefahr, sich mit Malaria zu infizieren und daran zu sterben oder einen schweren Gesundheitsschaden davonzutragen, ist für in Europa geborene Kleinkinder nigerianischer Eltern, die nach Nigeria zurückkehren, nach Art, Ausmaß und Intensität auf der Grundlage der vorstehenden Feststellungen von keinem solchen Gewicht, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für diese Kinder generell die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise Opfer zu werden.

Hiergegen spricht zunächst das Ausmaß dieser allgemeinen Gefahr, welches sich vor allem an der Sterblichkeitsrate in dieser Altersgruppe ablesen lässt. Dieses Ausmaß bleibt unterhalb des Grades der hohen Wahrscheinlichkeit, der hier als Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde zu legen ist und der vom Bundesverwaltungsgericht mit der früher verwendeten Formulierung umschrieben wird, dass ein Ausländer "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen" ausgeliefert wird (zum Maßstab BVerwG, Urteile vom 29. September 2011 - 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451, juris, Rn. 20, vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 -, BVerwGE 140, 319, juris, Rn. 23, und vom 29. Juni 2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226, juris, Rn. 15; OVG NRW, Urteile vom 4. September 2019 - 11 A 605/15.A -, juris, Rn. 42, und vom 18. Juni 2019 - 13 A 3930/18.A -, juris, Rn. 313).

Die Sterblichkeitsrate beträgt speziell für die Todesursache Malaria nach den oben näher bezeichneten Erkenntnissen für das Jahr 2016 mit 13 von 1.000 Lebendgeburten 1,3 Prozent. Dies machte 13 Prozent der Gesamttodesfälle dieser Altersgruppe aus. Die allgemeine Kindersterblichkeitsrate für diese Altersgruppe beträgt, je nach herangezogenem Zahlenmaterial, zwischen 10 und 12 Prozent (100,2 bzw. 120 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten). Aus diesen allgemeinen Zahlen wäre noch die Quote der Kleinstkindersterblichkeit herauszurechnen, da diese Wahrscheinlichkeit des Versterbens zwischen Geburt und Vollendung des ersten Lebensjahres in der allgemeinen Sterblichkeitsrate enthalten ist (vgl. VG Arnsberg, Urteil vom 5. November 2019 - 9 K 3325/17.A -, S. 29 des Urteilsabdrucks).

Damit erreicht die Sterblichkeitsrate auch vor dem Hintergrund, dass ohne Zweifel in Nigeria ein ganzjähriges hohes Infektionsrisiko besteht (vgl. Auswärtiges Amt, Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), Stand 3. März 2020 (unverändert gültig seit 15. Januar 2020), Quelle: www.auswaertigesamt. de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788 (zuletzt abgerufen: 3. März 2020)), und dass ein Aufenthalt von Kindern unter fünf Jahren und von Schwangeren in Malariahochrisikogebieten wie Nigeria aufgrund ihrer höheren Gefährdung grundsätzlich nicht zu empfehlen ist (vgl. DTG, a.a.O., S. 116, 130), nicht ein solches Gewicht, dass man eine extreme Gefahrenlage im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts annehmen kann.

Der Umstand, dass die in Europa geborenen Kleinkinder nigerianischer Eltern, die nach Nigeria zurückkehren, über keine durch Geburt und Heranwachsen in Nigeria erworbene Teilimmunität verfügen und sich nach ihrer Rückkehr zunächst an die dortige Keimflora gewöhnen müssen, führt ebenfalls nicht zur Annahme einer Extremgefahr. Denn das insoweit erhöhte Risiko reicht generell nicht dazu aus, die Schwelle zur Extremgefahr zu überschreiten.

Denn den Eltern in Europa geborener Kleinkinder ist zuzumuten, sich in den urbanen Zentren im Süden Nigerias anzusiedeln, wo nicht nur das Risiko einer Erkrankung mit Malaria generell niedriger ist als im ländlichen Raum oder im Norden des Landes, sondern wo sich auch die allgemeine medizinische Versorgung in den letzten Jahren deutlich verbessert hat. Dass diese weit unter dem zentraleuropäischen Standard liegt, ist unerheblich. Auch geht die Sterblichkeitsrate mit Vollendung des ersten Lebensjahres signifikant zurück, was für die meisten der betroffenen Kleinkinder risikosenkend zu berücksichtigen ist. Dies gilt im Übrigen nicht nur im Hinblick auf die Gesamtsterblichkeit, sondern konkret das Risiko, an Malaria zu versterben. Den betroffenen Kleinkindern ist auch konkret zuzumuten, sich mit ihren Eltern in den urbanen Zentren im Süden Nigerias anzusiedeln; dies hat das Verwaltungsgericht nicht durchgreifend in Frage gestellt.

Risikosenkend für in Europa geborene Kinder wirkt sich ferner aus, dass gerade ihre Geburt in Europa und das Verbringen ihrer ersten Lebensjahre hier ihre allgemeinen gesundheitlichen Lebensumstände verbessern. So gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine akute Mangel- oder Unterernährung hier geborener Kinder, von der indes mehr als 1,3 Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria bedroht sind (vgl. BFA, a.a.O., S. 52).

Nach Nigeria rückkehrenden Familien mit Kleinkindern ist es auch zumutbar, sich durch Vorsorgemaßnahmen vor einer Malariainfektion zu schützen. Das Verwaltungsgericht verfehlt insoweit den anzuwendenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wenn es darauf abstellt, ob sich mit einem imprägnierten Moskitonetz ein "verlässlicher Schutz" erzielen lässt. Dass mit einem imprägnierten Moskitonetz, dessen Verfügbarkeit nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht zweifelhaft ist, eine signifikante Risikosenkung möglich ist, steht zur Überzeugung des Senats fest. Darüber hinaus erschließt sich nicht, wieso auch unter der allgemeinen schwierigen wirtschaftlichen Situation in Nigeria es für rückkehrende Personen mit Kleinkindern nicht möglich sein sollte, allgemein infektionssenkende Maßnahmen zu ergreifen, wie etwa das Abkochen von Trinkwasser. Dass dies nicht auch unter – unterstellten – einfachsten Lebensbedingungen möglich sein soll, überzeugt nicht. Darüber hinaus können sich in Europa geborene Kleinkinder nigerianischer Eltern noch in Deutschland gegen verbreitete Infektionskrankheiten impfen lassen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 1. Dezember 2010 - 4 A 1731/06.A -, juris, Rn. 176).

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer bei der freiwilligen Ausreise nach Nigeria auf die finanzielle Unterstützung etwa des REAG/GARP-Programms der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Zusammenarbeit u. a. mit der Bundesregierung zählen können. Auch für medizinische Unterstützung werden Geldmittel bereitgestellt, so dass jedenfalls möglich ist, in der ersten Zeit des Aufenthalts von Kleinkindern in Nigeria Medikamente zur Malariaprophylaxe einzunehmen und sich über die nächsten Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten vor Ort zu informieren. Auch für den Fall der Abschiebung geht das Gericht davon aus, dass die zuständigen Ausländerbehörden erforderlichenfalls bei der Beschaffung der Medikamente behilflich sind (vgl. OVG NRW, Urteil vom 1. Dezember 2010 - 4 A 1731/06.A -, juris, Rn. 167).

Auf der Grundlage dieser generalisierenden Tatsachenfeststellungen liegt auch bei der im Juni 2017 in Italien geborenen Klägerin keine ein Abschiebungsverbot begründende Extremgefahr vor. Sie hat im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Senatsentscheidung mit mehr als zweieinhalb Jahren bereits ein Alter erreicht, in dem die Sterblichkeitsrate signifikant zurückgegangen ist. Ihrer Mutter ist zuzumuten, die Klägerin noch in Deutschland gegen verbreitete Infektionskrankheiten impfen zu lassen, sich mit ihr in den urbanen Zentren im Süden Nigerias anzusiedeln und sie durch die oben im Einzelnen angesprochenen Vorsorgemaßnahmen vor einer Malariainfektion zu schützen. [...]