BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 12.02.2020 - 1 BvR 1246/19 - asyl.net: M28345
https://www.asyl.net/rsdb/M28345
Leitsatz:

Prozesskostenhilfe bei unterschiedlicher Rechtsprechung der Obergerichte, ob Leistungsanspruch besteht:

Keine Versagung von Prozesskostenhilfe für ein sozialgerichtliches Eilverfahren zu der Frage, ob ein in der Bundesrepublik Deutschland lebender mittelloser griechischer Staatsangehöriger einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII hatte,  da es eine höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht gibt und die Rechtsprechung der Obergerichte uneinheitlich ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Sozialleistungen, Prozesskostenhilfe, Leistungsausschluss, Verfassungsmäßigkeit, Sozialrecht,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 20 Abs. 3, GG Art. 3
Auszüge:

[...]

14 Prozesskostenhilfe darf der unbemittelten Partei aber von Verfassungs wegen insbesondere dann nicht versagt werden, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt. Denn dadurch würde der unbemittelten Partei im Gegensatz zu der bemittelten die Möglichkeit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (vgl. ausführlich BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. April 2019 - 1 BvR 2111/17 -, Rn. 22 m.w.N.).

15 b) Nach diesen Grundsätzen verletzen die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die angegriffenen Beschlüsse überspannen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung und verfehlen dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, weil sich die im Verfahren zu Lasten des Beschwerdeführers beantwortete Rechtsfrage, ob der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII in der seit dem 29. Dezember 2016 geltenden Fassung verfassungskonform ist, als ungeklärt und schwierig darstellt.

16 aa) Eine höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu existiert nicht. Eine die Frage des Leistungsausschlusses von nicht ausreisepflichtigen Unionsbürgern ohne materielles Aufenthaltsrecht betreffende Revision ist derzeit vor dem Bundessozialgericht unter dem Aktenzeichen B 8 SO 7/19 R anhängig.

17 bb) In der Rechtsprechung der Landessozialgerichte werden hierzu unterschiedliche Auffassungen vertreten.

18 (1) Mehrheitlich gehen die Landessozialgerichte davon aus, dass § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nicht ausreisepflichtige Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht in verfassungskonformer Weise von Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII ausschließt (so z.B. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 24. April 2017 - L 8 SO 77/17 B ER -, juris, Rn. 37 ff.; Beschluss vom 2. August 2017 - L 8 SO 130/17 B ER -, juris, Rn. 55 ff; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 3. Dezember 2018 - L 7 SO 4027/18 ER-B -, juris, Rn. 40; Landessozialgericht Hamburg, Beschluss vom 28. September 2017 - L 4 SO 55/17 B ER -, juris, Rn. 9; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 27. März 2019 - L 7 AS 7/19 -, juris, Rn. 5 ff.; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22. Mai 2018 - L 11 AS 1013/17 B ER -, juris, Rn. 36; 19. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Fe-bruar 2018 - L 19 AS 249/18 B ER -, juris, Rn. 31 f.; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 4. Juli 2019 - L 4 AS 246/19 B ER -, juris, Rn. 42 f.; 23. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Januar 2019 - L 23 SO 279/18 B ER -, juris, Rn. 34 ff.).

19 (2) Andere Landessozialgerichte haben - im Rahmen von Eilverfahren beziehungsweise Prozesskostenhilfeverfahren - die Verfassungskonformität des Leistungsausschlusses bezweifelt und den Eilanträgen beziehungsweise Prozesskostenhilfeanträgen stattgegeben (7. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Januar 2018 - L 7 AS 2299/17 B -, juris, Rn. 14 f.; 18. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Januar 2019 - L 18 AS 141/19 B ER, L 18 AS 142/19 B ER PKH -, juris, Rn. 5; 15. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Juni 2017 - L 15 SO 104/17 B ER, L 15 SO 105/17 B ER PKH -, juris, Rn. 20).

20 cc) Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift wurden bereits im Gesetzgebungsverfahren geäußert (vgl. Ausschussdrucksache 18(11)851 - Materialien zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 28. November 2016 zum Gesetzentwurf der Bundesregierung "Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" - BTDrucks 18/10211, dort insbesondere Devetzi/Janda, S. 32 ff.; Berlit, S. 55 ff.).

21 dd) Auch in der Literatur ist die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII mit dem menschenwürdigen Existenzminimum umstritten (kritisch: Janda, ZRP 2016, S. 152 <153 f.>; Meyer-Höger, info also 2017, S. 99 <104 ff.>; Oberhäuser/Steffen, ZAR 2017, S. 149, <151 f.>; Schreiber, SR 2018, S. 181 <194>; Siefert, in: Coseriu/Eicher/Siefert (Hg.), juris-PK SGB XII, Stand 29.1.2019, § 23 Rn. 102, 107 sowie Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 23 Rn. 3 ff; a.A.: Ulmer, ZRP 2016, 224 <225 f.>; Birk, in: Harder/Conradis/ Thie, SGB XII, 11. Aufl. 2018, § 23 Rn. 55; Greiser/Ascher, VSSR 2016, S. 61 <110>; Schlette, in: Hauck/Noftz SGB XII, Stand 6/2019, § 23 Rn. 1).

22 ee) Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses für nicht erwerbstätige, nicht ausreisepflichtige Unionsbürger ist danach eine ungeklärte Rechtsfrage. Sie ist auch als "schwierig" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einzustufen, da sich die Frage nicht ohne Weiteres aus der hierzu vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere aus der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 u.a. - (BVerfGE 132, 134 ff.) beantworten lässt. Sowohl die Auffassung, der Leistungsausschluss sei verfassungskonform, als auch die Gegenauffassung berufen sich mit jeweils nicht von vornherein unvertretbaren Argumenten auf diese Rechtsprechung. [...]