VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Urteil vom 21.01.2019 - B 4 K 17.31119 - asyl.net: M28376
https://www.asyl.net/rsdb/M28376
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für eine Frau aus dem Senegal und ihre Tochter, da sie als alleinerziehende Mutter ohne familiären Rückhalt keine ausreichende Existenzgrundlage finden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Senegal, alleinerziehend, Genitalverstümmelung, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage ist für die Mehrheit der Bevölkerung im Senegal problematisch. Die Wirtschaft des Senegal mit seinen mehr als 15 Millionen Einwohnern wird von den Bereichen Landwirtschaft, Bauwirtschaft, Fischerei und Dienstleistungen dominiert. Fast 80 Prozent der Beschäftigten sind in der Landwirtschaft tätig. Der wichtigste Wachstumsbereich ist der Dienstleistungssektor (Finanzwesen, Telekommunikation und Immobilien). Der informelle Sektor trägt über 60 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Über 60 Prozent der Wirtschaftsaktivitäten des Landes konzentrieren sich auf den Großraum der Hauptstadt Dakar. Bei dem Döing Business Report 2016 gehörte Senegal zu den 10 Ländern mit den meisten Verbesserungen, allerdings steht es noch immer nur auf Platz 153 von 189 bewerteten Ländern. 2016 legte das BIP real um 6,6 Prozent zu. Am Wachstum waren primärer, sekundärer und tertiärer Sektor gleichermaßen beteiligt. Mit einem nominalen Pro-Kopf-Einkommen von 1.000 US-Dollar gehört Senegal zur Gruppe der Least Developed Countries und belegte im Jahr 2015 Platz 25 der ärmsten Länder der Welt. Während der Anteil der in Armut lebenden Menschen zwischen 2001 und 2005 von 55 auf 48 Prozent gefallen ist, liegt er derzeit immer noch bei etwa 50 %. Senegal gelang trotz diverser unterstützender Programme für sozial schwache Bevölkerungsgruppen nicht, das Milleniumsziel - Halbierung der Armut - zu erreichen. Die Erwartungen der Wählerschaft, dass sich ihre wirtschaftliche Situation durch den Regierungswechsel im Jahr 2012 maßgeblich verbessert, konnte die Regierung bislang nur ansatzweise erfüllen (Auswärtiges Amt, Lageberichte Senegal vom 6. März 2018; Auswärtiges Amt - Senegal Wirtschaft, Abrufdatum 21.1.2019; BFA Österreich - Stand 23.5.2018).

Im Senegal leben viele allein erziehende Mütter, die meisten in großer Armut. So gut wie alle erhalten Unterstützung von Familienangehörigen. Selbst nach einer Überwerfung mit Eltern oder Ehemann gibt es in den üblicherweise großen afrikanischen Familienverbänden Tanten oder Cousinen, die sich der Verstoßenen annehmen. Das staatliche Hilfsangebot ist zu vernachlässigen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.8.2008).

Das Gericht hat die gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nötige Überzeugung gewonnen, dass konkret für die Klägerin zu 1) als alleinerziehende, junge Mutter und die im Kindesalter befindliche Klägerin zu 2) auf Grund ihrer individuellen Voraussetzungen und konkreten Lebenssituation bei einer Rückkehr in den Senegal mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage besteht, weil sich die dargestellte Situation für die Klägerinnen hinsichtlich ihrer Existenzbedingungen im Senegal zuspitzt. Die Klägerin zu 1) wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht dazu in der Lage sein, allein für sich und ihre Kinder eine menschenwürdige Lebensgrundlage außerhalb ihres Heimatortes und ohne die Hilfe ihres Ehemanns bzw. dessen Familie zu erwirtschaften. Sie hat glaubhaft geschildert, dass sich ihr Mann seit ihrer Ausreise von ihr abgewendet hat und sie zu ihrer eigenen Familie schon seit geraumer Zeit keinerlei Kontakt mehr hat. Insbesondere seien ihre Geschwister nur Halbgeschwister, zu denen schon seit jeher keine Beziehung bestanden habe. Ebenso scheidet eine Hilfenahme bei der Familie ihres Ehemanns aufgrund der drohenden Beschneidung, die von der Klägerin zu 1) plausibel und ohne Überspitzungen geschildert wurde, denknotwendig aus. Der Sachvortrag der Klägerin zu 1) zur drohenden Beschneidung ist in sich stimmig und entspricht der Auskunftslage. Insbesondere gibt die Klägerin zutreffend an, dass die Beschneidung von ihrem Volk abgelehnt würde, während sie im Volk des Ehemanns - der Ethnie der Peul - weiter befürwortet und auch vollzogen würde. Ebenso konnte die Klägerin glaubhaft darstellen, dass sich ihr Mann aufgrund des Einflusses seiner Familie zu einer Beschneidung genötigt fühle. Zudem stimmt der Vortrag der Klägerin, dass der Mann als Familienoberhaupt ("Chef de la famille") das Sorgerecht für die Kinder im Falle einer Scheidung bekomme, mit der derzeitigen Auskunftslage überein (Auswärtiges Amt, Lageberichte Senegal vom 6. März 2018, S. 16). [...]

Auch in familiärer Hinsicht sieht das Gericht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Unterstützung durch die Angehörigen der Klägerinnen. Sie hat glaubhaft die nur oberflächliche Beziehung zu ihren eigenen Eltern sowie Halbgeschwistern geschildert. Eine Unterstützung durch den Ehemann und dessen Familie scheidet aufgrund der drohenden Beschneidung der Antragstellerin zu 2) aus.

Die Klägerin zu 2) ist aufgrund ihres geringen Alters von fünf Jahren auf ihre Mutter angewiesen.

In der Gesamtschau kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass der Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für sich und die Klägerin zu 2) sowie des Sohnes möglich sein wird. Vielmehr liegt bei den geschilderten Verhältnissen ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem humanitäre Gründe der Abschiebung entgegenstehen. Es steht zu erwarten, dass den Klägerinnen die zur Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse erforderlichen finanziellen Mittel fehlen würden. [...]