VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 07.05.2019 - 8 K 3176/17.GI.A - asyl.net: M28377
https://www.asyl.net/rsdb/M28377
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für einen Somalier aus Mogadischu:

1. In Zentral- und Südsomalia herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt.

2. Es fehlen hinreichend geeignete Grundlagen für eine quantitative und qualitative Bewertung der Gefahrendichte. Dies hat zur Folge, dass auf die Einschätzung der Gefahrensituation durch Beobachter*innen mit Erfahrung aus erster Hand abzustellen ist, auch wenn diese unter Umständen subjektiv sind.

3. Auch ohne das Hinzutreten individueller gefahrerhöhender Umstände ist der Konflikt durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

4. Ein Ausweichen innerhalb Somalias ist nicht zuzumuten. Sichere Zufluchtsgebiete sind schwierig zu bestimmen, da man je nach Ausweichgrund und persönlichen Umständen möglicherweise
in einem anderen Gebiet Somalias von anderen Menschenrechtsverletzungen oder Verletzungen
des humanitären Völkerrechts bedroht ist. Hinzu kommt, dass es häufig schwierig oder unmöglich ist, solche Gebiete zu erreichen. Schließlich ist die Aufnahmekapazität der Zufluchtsgebiete begrenzt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Zentralsomalia, Südsomalia, Mogadischu, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Nach ständiger Rechtsprechung der hiesigen Kammer herrscht in Süd- und Zentralsomalia derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, der durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (siehe etwa Urteil vom 25.10.2018 - 8 K 2509/17.GI.A -; Urteil vom 19.12.2017 - 8 K 2602/17 -; Urteil vom 24.02.2017 - 8 K 1082/16.GI.A -; Urteil vom 16.06.2016 - 8 K 3187/15.GI.A -; Urteil vom 15.07.2015 - 8 K 3104/13.GI.A - ; jeweils nicht veröffentlicht). [...]

Unter Berücksichtigung der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisse ist für Süd- und Zentralsomalia nach wie vor vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des Flüchtlingsrechts auszugehen.

Nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen stellt sich die allgemeine Situation in Somalia aktuell im Wesentlichen wie folgt dar: Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein sehr fragiler Staat. Es existiert keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind fragil und schwach. Die Autorität der Zentralregierung wird unter anderem vom nach Unabhängigkeit strebenden "Somaliland" (Regionen Awdaal, Wooqoi Galbeed, Toghdeer, Sool, Sanaag) im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen Al-Shabaab-Miliz in Frage gestellt. In vielen Gebieten der Gliedstaaten Süd-/Zentralsomalias und der Bundeshauptstadt Mogadischu herrscht Bürgerkrieg. Die somalischen Sicherheitskräfte kämpfen mit Unterstützung der vom VN-Sicherheitsrat mandatierten Friedensmission der Afrikanischen Union AMISOM (African Union Mission in Somalia) gegen die radikal-islamistische, al-Qaida-affiliierte Al-Shabaab-Miliz. Die Gebiete sind nur teilweise unter der Kontrolle der Regierung, wobei zwischen der im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkten Kontrolle der somalischen Bundesregierung und der Kontrolle andere urbaner und ländlicher Gebiete durch die Regierungen der föderalen Gliedstaaten Somalias, die der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen, unterschieden werden muss. In den von Al-Shabaab befreiten Gebieten kommt es zu Terroranschlägen durch diese islamische Miliz. Am 14.10.2017 kam es zu einem der verheerendsten Anschläge der somalischen Geschichte Somalias mit über 500 Todesopfern und zahlreichen Verletzten. Ein LKW brachte eine Sprengladung in einer belebten Kreuzung in Mogadischu zur Detonation. Die Al-Shabaab Miliz wird hinter dem Anschlag vermutet, hat sich jedoch nicht offiziell dazu bekannt. Am 28.10.2017 kam es erneut zu einem schweren Anschlag durch Al-Shabaab im Stadtzentrum Mogadischus, bei dem mindestens 23 Personen starben (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.03.2018, S. 4 f.).

Von diesem Konflikt geht für den Kläger im Falle ihrer Rückkehr nach Somalia auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.

Das Tatbestandsmerkmal der "ernsthaften individuellen Bedrohung" des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfordert entweder eine solche Gefahrendichte, dass jedermann allein aufgrund seiner Anwesenheit im jeweiligen Gebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, oder persönliche Umstände, die das derartige Risiko erheblich erhöhen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BVerwG, U. v. 14.07.2009 - 10 C 9.08 -, juris; EuGH, U. v. 17.02.2009 - C-465/07 -, juris). Auch diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt.

Für die individuelle Betroffenheit bedarf es einer Feststellung der Gefahrendichte, die jedenfalls eine annäherungsweise quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos umfasst (BVerwG, U. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - und v. 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris).

Eine Bewertung der Gefahrendichte aufgrund einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos durch Gegenüberstellung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und der Akte willkürlicher Gewalt, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, ist allerdings mit hinreichend verlässlichen Ergebnissen nicht möglich. Soweit die Beklagte bisweilen eine entsprechende Bewertung vornimmt, ist diese nicht hinreichend belegt. Dies gilt schon für die zugrunde gelegte Gesamtbevölkerungszahl als Ausgangsbasis. Im EASO-Bericht 2014 wird an mehreren Stellen erwähnt, dass es insoweit keine gesicherten Zahlen gibt; die wiedergegebenen Schätzungen differieren erheblich (z.B. Ziff. 1.1.4.2.3; Ziff. 1.2.1). Selbst wenn die Einwohnerzahl von 10,086 Mio. für Gesamtsomalia in der von der Beklagten verwendeten Quelle (Munzinger Online/Länder - Internationales Handbuch) annähernd richtig sein sollte, ist weiter zu berücksichtigen, dass es mehr als eine Million Binnenvertriebene gibt (vgl. ACCORD, Länderkurzübersicht Somalia von September 2016). Diese Binnenvertriebenen haben sich in verschiedenen Lagern in Sicherheit gebracht und dürften überwiegend aus Zentral- und Südsomalia stammen. Weiterhin kann die Zahl der Zivilpersonen, die Opfer willkürlicher Gewalt geworden sind, nicht einmal annäherungsweise geschätzt werden, weil dazu belastbare Zahlen nicht vorhanden sind. In Süd- und Zentralsomalia gibt es praktisch keine Menschenrechtsbeobachter: Internationale Menschenrechtsorganisationen haben derzeit keine Vertreter dauerhaft nach Somalia entsandt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.03.2018, Ziff. 1.5). Soweit die Beklagte für Somalia auf in verschiedenen Quellen zitierte Angaben zu Opfern abstellt (z.B. Berichte von Danish Immigration Service und Norwegian Landinfo oder Datenbank ACLED), ist zu berücksichtigen, dass auch insoweit kein umfassendes Bild vermittelt wird. So ist bereits nicht nachvollziehbar, von wem und auf welcher Grundlage die genannten Zahlen ermittelt wurden.

Bei den Opferzahlen ist neben der rein quantitativen Ermittlung zusätzlich eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Schwere der Schädigungen anzustellen (BVerwG, U. v. 17.11.2011 - 10 C 13/10 -, juris). Bei dieser wertenden Gesamtbetrachtung ist auch die sehr schlechte medizinische Versorgungslage in Süd- und Zentralsomalia zu berücksichtigen, die im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.03.2018 als äußerst mangelhaft beschrieben wird (vgl. Ziff. 4.1.3). Auch in dem EASO-Bericht 2014 wird die medizinische Versorgungslage als "poor even by Sub-Saharan standards" qualifiziert, sie habe sich durch den Rückzug von Ärzte ohne Grenzen im August 2013 nochmals verschlechtert (vgl. Ziff. 1.7). Deswegen sind bei der Bewertung des Opferrisikos auch bloße Misshandlungen beachtlich. Es ist wenig wahrscheinlich, dass in den von der Beklagten herangezogenen Statistiken alle Einzelübergriffe enthalten sind, insbesondere auch solche, bei denen das Opfer nicht zu Tode gekommen ist. Übergriffe der Islamisten wegen ihnen missliebigen Verhaltens dürften dem beobachtenden Umfeld nach der jahrzehntelangen Erfahrung der letzten Jahre nicht spektakulär erscheinen. Auch sonst gibt es keine vollständige und zuverlässige Berichterstattung über Vorkommnisse. So wird z.B. erwähnt, dass die Berichterstattung von Journalisten über Übergriffe von Polizisten unterdrückt wird (vgl. EASO-Bericht 2014 Ziff. 4.3.3). Über Anschläge und Attentate wird in der internationalen Presse nicht immer berichtet. Die Beklagte geht in ihren Bescheiden selbst von einer erheblichen Dunkelziffer bei den Opferzahlen aus.

Aus den zuvor genannten Gründen fehlen zur Überzeugung des Gerichts hinreichend geeignete Grundlagen für eine quantitative und qualitative Bewertung der Gefahrendichte. Dies hat allerdings nicht zur Folge, dass die erforderliche Gefahrendichte allein wegen des innerstaatlichen Konflikts ohne weiteres bejaht werden kann. Es ist vielmehr auf die Einschätzung der Gefahrensituation durch Beobachter mit Erfahrung aus erster Hand abzustellen - sofern derartige Einschätzungen vorhanden sind - , auch wenn diese unter Umständen subjektiv sind (vgl. VG Regensburg, U. v. 08.01.2015 - RN 7 K 14.30016 und RO 7 14.30801 -, juris). Insoweit ergibt sich folgendes Bild:

Auch in den unter der Kontrolle der Regierung stehenden Gebieten sind weiterhin in erheblicher Zahl Zivilisten Opfer von individuellen Übergriffen durch die Islamisten, von willkürlichen Akten der Regierungsseite oder von Terroranschlägen. In neueren Berichten mag zwar unterdessen regelmäßig von "Verbesserungen" die Rede sein. Dies ist aber in Relation zur früheren extremen Situation zu sehen und kann nicht damit gleichgesetzt werden, dass keine wesentliche Gefahr für die Zivilbevölkerung mehr gegeben ist. So heißt es im Amnesty-Report 2016, dass 2015 erneut Zivilpersonen wahllos getötet oder verletzt worden seien, die bei bewaffneten Auseinandersetzungen ins Kreuzfeuer gerieten oder Opfer von Selbstmordanschlägen und Angriffen mit selbstgebauten Sprengsätzen und Granaten seien. Zivilpersonen liefen weiterhin Gefahr, Opfer gezielter Angriffe und Tötungen zu werden. Im EASO-Bericht von August 2014 wird ausgeführt, dass mehrere Anschläge "Nachfolgeanschläge" umfassten, bei denen zu Hilfe Eilende und Zuschauer ins Visier genommen würden, so dass es zu mehr Todesfällen komme. Mit Angriffen auf öffentliche und belebte Orte sende die Al-Shabaab ein Zeichen an die Allgemeinheit, dass jeder, der sich für die Normalisierung des täglichen Lebens in Mogadischu einsetze, in Gefahr sein könne (Ziff. 3.4.9). Viele Opfer unter der Zivilbevölkerung könnten zwar als "zur falschen Zeit am falschen Ort" bezeichnet werden und nicht als Opfer gezielter Angriffe auf Zivilisten. Da aber auch sogenannte sichere Gebiete von der Al-Shabaab regelmäßig angegriffen würden, sei es nicht möglich, in der Hauptstadtregion Benadir vollständig sichere Gebiete zu definieren. Nach dem Österreichischen Roten Kreuz verschlechtert sich die Sicherheitslage in Somalia aktuell wieder (ACCORD, Kurzübersicht Somalia).

Auch aus der ACLED Datenbank ergibt sich nicht, dass sich die Gefahr für Zivilisten in Somalia entscheidend verringert hat. Es mag zutreffen, dass die Anzahl der Todesopfer im Jahr 2015, insbesondere in der Region Benadir, gegenüber dem Vorjahr abgenommen hat. Von einer Trendwende kann jedoch noch nicht die Rede sein. Die Zahl der zivilen Todesopfer bewegt sich in Somalia seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau. Zudem, so der ACLED Conflict Trends Bericht No. 34 von Februar 2015, habe die Al-Shabaab den Einsatz von Gewalt gegen Zivilisten sogar erhöht. Es sei zu beobachten, dass Zivilisten nicht nur zufällig Opfer von Anschlägen werden: Terroranschläge würden gezielt gegen Zivilisten gerichtet. Gerade in den von den Regierungstruppen und AMISOM zurückeroberten Gebieten setze die Al-Shabaab Gewalt gegen Zivilisten ein, etwa durch Anschläge auf Marktplätzen und in Teestuben, um die neue Regierung zu destabilisieren.

Ferner deutet auch der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.03.2018 nicht darauf hin, dass sich die Sicherheitslage in Süd- und Zentralsomalia entscheidend verbessert hat und Zivilisten nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden.

Das Gericht hat die erforderliche Überzeugung gewonnen, dass der Kläger aus der Stadt Mogadischu in Südsomalia stammt. Dies folgt aus dem seinem glaubhaften Vortrag im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren.

Bei einer wertenden Gesamtbetrachtung ist das Gericht deshalb davon überzeugt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Süd- und Zentralsomalia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Vor diesem Hintergrund kommt es auf das Vorliegen gefahrerhöhender Umstände in der Person des Klägers nicht an. [...]

Schließlich ist dem Kläger ein Ausweichen innerhalb Somalias nicht zuzumuten (vgl. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG). Relativ sichere Zufluchtsgebiete sind schwierig zu bestimmen, da man je nach Ausweichgrund und persönlichen Umständen möglicherweise in einem anderen Gebiet Somalias von anderen Menschenrechtsverletzungen oder Verletzungen des humanitären Völkerrechts bedroht ist. Hinzu kommt, dass es häufig schwierig oder unmöglich ist, solche Gebiete zu erreichen. Schließlich ist die Aufnahmekapazität der Zufluchtsgebiete begrenzt und bereits jetzt durch deutlich mehr als eine Million Binnenvertriebene sowie durch die Rückkehrer aus Saudi-Arabien und Jemen sehr angespannt (vgl. UNHCR, Gutachten vom 28.07.2016). [...]