OLG Braunschweig

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Zitieren als:
OLG Braunschweig, Beschluss vom 11.04.2020 - 3 W 30/20 - Asylmagazin 5/2020, S. 182 ff. - asyl.net: M28378
https://www.asyl.net/rsdb/M28378
Leitsatz:

Keine Wohnungsdurchsuchung zur Sicherstellung von Identitätspapieren allein wegen Mitwirkungspflichtverletzung:

1. Ein Wohnungsdurchsuchungsbeschluss muss Umfang und Inhalt der Durchsuchung hinreichend bestimmt bezeichnen, um dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot zu entsprechen. Dazu gehört auch die zumindest annähernde Bezeichnung der bei der Durchsuchung sicherzustellenden Sache.

2. Eine Wohnungsdurchsuchung erfordert konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich in der Wohnung Dinge befinden, die nach Polizei- und Ordnungsrecht (hier § 26 Nr. 1 Nds. SOG, jetzt § 26 NPOG) sichergestellt werden dürfen. 

3. Allein die Tatsache, dass eine ausländische Person die Mitwirkung an der Passbeschaffung hartnäckig verweigert, reicht nicht als Indiz dafür aus, dass sich in deren Wohnung Passpapiere oder relevante Unterlagen befinden. Eine Wohnungsdurchsuchung kann daher nicht auf (einen Verstoß gegen) die Pflicht zur Beschaffung eines Identitätspapiers nach § 48 Abs. 3 S. 1 AufenthG oder auf § 48 Abs. 3 S. 2 AufenthG gestützt werden, wonach bei Mitwirkungspflichtverletzung die betroffene Person und ihre Sachen durchsucht werden können.

4. Da eine Wohnungsdurchsuchung einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstellt, muss dieser im angemessenen Verhältnis zur Schwere des pflichtwidrigen Verhaltens der betroffenen Person stehen. Bei der vorliegend in Betracht kommenden Ordnungswidrigkeit nach § 98 Abs. 5 AufenthG ist dies nicht der Fall. Zudem ist der Wohnungsdurchsuchungsbeschluss jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn die Wahrscheinlichkeit des Auffindens von Ausweispapieren oder relevanten Unterlagen gering ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Passpflicht, Pass, Wohnungsdurchsuchung, Verhältnismäßigkeit, Mitwirkungspflicht, Bestimmtheitsgebot, Durchsuchung, Passbeschaffungspflicht
Normen: AufenthG § 48 Abs. 3, AufenthG § 98 Abs. 2 Nr. 3, Nds. SOG § 24 Abs. 2 Nr. 2, Nds. SOG § 26 Nr. 1, NPOG § 24, NPOG § 26,
Auszüge:

[...]

21 Von Verfassungs wegen besteht die Pflicht, durch geeignete Formulierungen eines Durchsuchungsbeschlusses sicherzustellen, dass der Eingriff in die Grundrechte messbar und kontrollierbar bleibt (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 5. Juli 2016 – 2 BvR 1710/15 –, juris-Rn. 11). In Bezug auf einen auf § 102 StPO gestützten Durchsuchungsbefehl gehören hierzu insbesondere auch Angaben zu den Beweismitteln, denen die Durchsuchung gilt, wenn solche Kennzeichnungen nach dem Ergebnis der Ermittlungen ohne weiteres möglich sind (BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1976 – 2 BvR 294/76 –, BVerfGE 42, 212, zitiert nach Juris, dort Rn. 32). Diese Anforderung soll verhindern, dass sich die Zwangsmaßnahme auf Gegenstände erstreckt, die vom Durchsuchungsbeschluss nicht erfasst werden, und entfaltet damit eine weitere Schutz - wirkung zugunsten der Grundrechte des Betroffenen (BVerfG, a.a.O., juris-Rn. 34). Diese Grundsätze lassen sich auf eine Durchsuchung gemäß §§ 24 Abs. 2 Nr. 2, 26 Nr. 1 Nds. SOG übertragen. Auch insoweit folgt aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit das Gebot, durch geeignete Formulierungen des Durchsuchungsbeschlusses den Umfang und den Inhalt der Zwangsmaßnahmen hinreichend bestimmt zu bezeichnen.

22 Diesen rechtsstaatlichen Mindesterfordernissen genügt der angegriffene Durchsuchungsbeschluss nicht. Der Beschluss ordnet pauschal die Durchsuchung der Wohnung des Betroffenen sowie seiner Person und der ihm gehörenden Sachen "zur Durchsetzung der ausweisrechtlichen Pflichten des Betroffenen" an. Der Gegenstand der beabsichtigten Sicherstellung, zu deren Zweck die Durchsuchung durchgeführt werden soll, wird in keiner Weise konkretisiert, obgleich dies ohne weiteres möglich gewesen wäre. Zwar mag es regelmäßig Schwierigkeiten bereiten, die sicherzustellenden Sachen konkret zu benennen, da häufig erst die Durchsuchung Aufschluss darüber geben wird, ob bzw. welche konkreten Sachen beim Betroffenen aufzufinden sind. Das schließt indessen nicht aus, die erwarteten Sachen wenigstens annäherungsweise – gegebenenfalls in Form beispielhafter Angaben – zu beschreiben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1976 – 2 BvR 294/76 –, BVerfGE 42, 212, zitiert nach Juris, dort Rn. 32). Dem trägt der Antrag der Ausländerbehörde der Stadt G. vom 11.07.2018 mit der Formulierung "Dokumente zur Aufklärung der Identität und Staatsangehörigkeit" Rechnung. Der angegriffene Beschluss enthält eine solche Konkretisierung hingegen nicht. [...]

25 (1) § 48 Abs. 3 Satz 2, 3 AufenthG bietet keine geeignete Rechtsgrundlage für eine Wohnungsdurchsuchung. Für eine solche ist gemäß Art. 13 Abs. 2 GG immer eine spezifische einfachgesetzliche Rechtsgrundlage erforderlich (vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand: Oktober 2019, Art. 13 Rn. 21). § 48 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ermöglicht nach dem eindeutigen Wortlaut nur die Durchsuchung des Ausländers und der von ihm mitgeführten Sachen. Einer analogen Anwendung der Vorschriften steht der Gesetzesvorbehalt entgegen (im Ergebnis ebenso: Möller, in: NK-AuslR, 2. Auflage 2016, § 48 AufenthG, Rn. 37; Hörich/Hruschka, in: BeckOK AuslR, Stand: 01.05.2019, § 48 AufenthG, Rn. 49.1; Winkelmann/Wunderle, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 48 AufenthG, Rn. 6; a. A. Senge, in: Erbs/Kohlhaas, 228. EL Januar 2020, § 48 AufenthG, Rn. 3).

26 (2) Als mögliche Ermächtigungsgrundlage kommen deshalb nur die polizeirechtlichen Befugnisse aus dem Nds. SOG in Betracht. [...]

29 Im vorliegenden Fall verwirklicht der Betroffene durch die Verweigerung der ihm gemäß § 48 Abs. Satz 1 AufenthG obliegenden Mitwirkungshandlungen fortwährend den Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 98 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG. Es liegt somit eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor.

30 Es ist aber fraglich, ob aus der maßgeblichen Ex-ante-Sicht Tatsachen vorlagen, die die Annahme rechtfertigten, dass sich in der Wohnung des Betroffenen Sachen befanden, die nach § 26 Nr. 1 Nds. SOG sichergestellt werden durften. Tatsachen in diesem Sinne setzen konkrete Anhaltspunkte voraus (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 2018 – I-3 Wx 239/17 –, NVwZ-RR 2018, 670 [671]; ähnlich OLG Frankfurt, Beschluss vom 19. Juli 2006 – 20 W 181/06 –, FGPrax 2007, 42). Allein die schlichte Möglichkeit, dass beim Betroffenen Ausweispapiere oder sonstige zur Identifizierung geeignete Dokumente gefunden werden könnten, genügt für den Erlass einer Durchsuchungsanordnung hingegen nicht (OLG Düsseldorf, a.a.O.; LG Ravensburg, Beschluss vom 24. März 2003 – 6 T 364/01 –, NVwZ-RR 2003, 650 [651]).

31 Im vorliegenden Fall stützt die Ausländerbehörde der Stadt G. ihren Verdacht, der Betroffene sei entgegen seiner Behauptungen noch im Besitz von Ausweisdokumenten, auf dessen konsequente Verweigerungshaltung, seine ausdrückliche Ankündigung nicht in sein Heimatland zurückzureisen und den Umstand, dass er im Zuge seiner Schilderung, er habe seinen Pass verloren, jedes Mal lache.

32 Es ist zweifelhaft, ob diese Umstände hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür begründen können, dass der Betroffene tatsächlich im Besitz eines Passes oder sonstiger Ausweisdokumente ist. Soweit einzelne Stimmen in der Literatur in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten, um die Anforderungen an eine Wohnungsdurchsuchung "nicht praxisfern zu überspannen", rechtfertige bereits die Weigerung, bei der Passersatzpapierbeschaffung mitzuwirken, den tatsachenbegründeten Verdacht, dass der Ausländer von ihm verheimlichte echte Papiere in seiner Wohnung oder an seinem Körper aufbewahre, um seinen illegalen Aufenthalt fortzusetzen (so Neuhäuser, in: BeckOK PolR Nds, Stand: 01.05.2019, § 24 Nds. SOG, Rn. 35a mit unzutreffendem Hinweis auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Mai 2004 – I-3 Wx 333/03 –, BeckRS 2004, 30336591), folgt der Senat dem nicht.

33 Der Umstand, dass ein Ausländer hartnäckig seine Mitwirkungspflichten aus § 48 Abs. 3 AufenthG verletzt und hierdurch zugleich den Bußgeldtatbestand des § 98 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG verletzt, stellt unzweifelhaft eine konsequente Verweigerungshaltung dar. Hieraus dürfte sich auch regelhaft der Schluss ziehen lassen, dass er hierdurch das Ziel erreichen möchte, nicht in sein Heimatland zurückkehren zu müssen. Beides stellt aber evident kein Indiz dafür dar, dass er in seiner Wohnung Ausweisdokumente aufbewahrt. Konkrete Anhaltspunkte hierfür können sich vor diesem Hintergrund im vorliegenden Fall allein aus dem knappen Aktenvermerk der zuständigen Sachbearbeiterin ergeben, es bestünden erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der Schilderung des Antragstellers, weil er jedes Mal lache, wenn er von den Umständen des Verlustes seines Passes erzähle. Ob allein der in einem Aktenvermerk festgehaltene Eindruck der zuständigen Sachbearbeiterin von der Glaubhaftigkeit der Schilderung geeignet ist, einen im Rahmen des § 24 Abs. 2 Nr. 2 Nds. SOG erforderlichen konkreten Anhaltspunkt zu begründen, ist zumindest zweifelhaft. Dieser Gesichtspunkt bedarf im vorliegenden Fall jedoch keiner Entscheidung. Der Beschluss bzw. die hierauf gestützte Durchsuchungsmaßnahme ist im vorliegenden Fall nämlich jedenfalls unverhältnismäßig (dazu nachfolgend bb).

34 bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts greift eine Wohnungsdurchsuchung in die durch Art. 13 GG geschützte Lebenssphäre schwerwiegend ein und kann nur unter Beachtung der Bedeutung des Grundrechts und des (in § 4 Nds. SOG konkretisierten) Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit angeordnet werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. August 2009 – 1 BvR 2104/06 –, FamRZ 2009, 1814). Aus diesem folgt, dass der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene Eingriff in das Grundrecht des Art. 13 Abs. 1 GG in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen muss (BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 2013 – 2 BvR 389/13 –, juris-Rn. 16). Es ist ferner der Grad des auf die verfahrenserheblichen Informationen bezogenen Auffindeverdachts zu berücksichtigen (BVerfG, a.a.O., juris-Rn. 17).

35 Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf den Tatverdacht einer Ordnungswidrigkeit wegen eines Verstoßes gegen die ausweisrechtlichen Pflichten nach dem damals geltenden Ausländergesetz (§ 93 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 40 AuslG) eine Wohnungsdurchsuchung als rechtswidrig angesehen (BVerfG, Beschluss vom 22. März 1999 – 2 BvR 2158/98 –, NJW 1999, 2176). Bei der Vermutung einer Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße von höchstens 5.000 DM (§ 93 Abs. 5 AuslG) bewehrt sei, sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr gewahrt (BVerfG, a.a.O.).

36 Im vorliegenden Fall kann die in Betracht kommende Ordnungswidrigkeit im Höchstmaß mit 3.000 Euro geahndet werden (§ 98 Abs. 5 AufenthG). Die mit der Verwirklichung der Ordnungswidrigkeit als solcher verbundene gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit rechtfertigt danach keine Durchsuchungsmaßnahme.

37 Der von der Ausländerbehörde der Stadt G. hervorgehobene Gesichtspunkt, die zur Durchsuchung im strafprozessualen Bereich ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lasse sich nicht einfach auf Durchsuchungen nach dem Polizei- und Ordnungsrecht übertragen, führt nicht zu einer anderen Bewertung. Dies gilt insbesondere für den Gesichtspunkt, der Rechtsverstoß werde fortwährend und damit für einen mittlerweile nicht mehr hinnehmbaren Zeitraum aufrechterhalten. Insoweit ist nämlich nach den oben dargestellten Grundsätzen auch zu berücksichtigen, mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass bei einer Durchsuchung der Wohnung des Betroffenen Ausweisdokumente aufgefunden werden können. Die Umstände, die für die Annahme, der Betroffene sei im Besitz eines Reisepasses, angeführt werden, sind äußerst vage (s.o.). Letztlich beruht diese Einschätzung nur auf dem in einem knappen Vermerk festgehaltenen Eindruck der Sachbearbeiterin zur Glaubwürdigkeit der Darstellung des Betroffenen.

38 Die hieraus folgende lediglich geringe Auffindewahrscheinlichkeit in Verbindung mit dem Umstand, dass die in Rede stehende gegenwärtige Gefahr nur eine Ordnungswidrigkeit betrifft, die im Höchstmaß mit einem Bußgeld von 3.000 Euro bewehrt ist, führt dazu, dass sich der Durchsuchungsbeschluss auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Rechtsverstoß zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses bereits erhebliche Zeit andauerte, als nicht verhältnismäßig darstellt (sogar für eine generelle Unverhältnismäßigkeit einer polizeirechtlichen Durchsuchungsanordnung wegen Verstoßes gegen die Mitwirkungspflichten aus § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG: Möller, NK-AuslR, 2. Aufl. 2016, § 48 Rn. 37; Zschieschack, in: NJW 2005, 3318, 3319; wohl auch AG Hameln, Beschluss vom 7. Dezember 2004 – 38 UR II 3/04 –, Nds. Rpfl. 2005, 230, juris-Rn. 4 ff.). [...]