VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 05.02.2020 - 4 K 6638/17.GI.A - asyl.net: M28381
https://www.asyl.net/rsdb/M28381
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer Familie aus der Türkei wegen des Verdachts, der Gülen-Bewegung nahezustehen:

1. Schon vage Anhaltspunkte wie die Nutzung der Kommunikations-App Bylock oder Verbindungen zu Banken, Schulen und Wohlfahrtsorganisationen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden, können zu Verfolgungsmaßnahmen führen.

2. Das Auswärtige Amt ist zur Zeit nicht in der Lage, entsprechende Angaben zu überprüfen.

3. Dass Anhängern der Gülen-Bewegung häufig die Unterstützung von Terrorismus vorgeworfen wird, ist kein Ausschlussgrund.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Gülen, Flüchtlingsanerkennung, politische Verfolgung, Terrorismusvorbehalt,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Hinsichtlich der Gefahr, aufgrund des Vorwurfs, der Gülen-Bewegung (FETÖ) nahezustehen oder anzugehören, führt das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 3. August 2018 aus:

"Aktuell gibt es deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der Gülen-Bewegung, ohne dass es Kriterien dafür gäbe, was einen "Anhänger" kennzeichnet. Türkische Behörden (bzw. Gerichte) können eine Person bereits dann als "FETÖ-Terrorist" einordnen, wenn diese Mitglied der Gülen-Bewegung ist oder persönliche Beziehungen zu den Mitgliedern der Bewegung unterhält, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht hat oder im Besitz von Schriften Gülens ist. Als besonders starkes Indiz werden finanzielle Beziehungen von Personen zu Einrichtungen gewertet, die der Gülen-Bewegung nahestehen. Im Zuge der starken politischen Polarisierung und insbesondere wegen der erneuten Eskalation des Konflikts mit der PKK wurde der Druck auf regierungskritische Kreise deutlich erhöht. Vor diesem Hintergrund kommt es zu staatlichen repressiven Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen."

Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 14. Juni 2019 führt aus, dass die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung andauert und die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft hierbei recht vage sind. In der Regel reiche eines der nachfolgenden Kriterien, um eine Strafverfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten:

- Nutzen der Kommunikations-App Bylock,

- Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013,

- Abonnement von Cihan oder der Zeitung Zaman,

- Spenden an zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen,

- Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder,

- Kontakte zu Gülen zugeordneter Gruppen, Organisationen, Firmen (inkl. Abhängiger
Beschäftigung),

- Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.

Darüber hinaus kann jedenfalls in Gülenisten-Prozessen nicht von einem fairen und unvoreingenommenen Verfahren ausgegangen werden. Seit dem "Putschversuch" gibt es Berichte von unfreiwilligem Verschwinden von Personen im zweistelligen Bereich und hiervon betroffen waren ausschließlich Personen, gegen die wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt wurde. [...]

Eine zwischenzeitliche Entspannung der Lage in der Türkei ist nicht feststellbar. Dem allgemeinkundigen Bericht von Zeit-Online vom 1. Januar 2019 ist zu entnehmen, dass in der Türkei im Jahr 2018 nach Angaben des türkischen Innenministeriums 75.000 Menschen festgenommen wurden, darunter ein Großteil wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung. Nach der Meldung im Videotext des ZDF vom 22. Februar 2019 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums im Jahr 2018 52.000 Personen wegen Gülen-Verdachts inhaftiert und laut Anadolu wird aktuell nach 295 Personen gefahndet; seit dem Putschversuch von 2016 fänden fast täglich Razzien statt. Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 14. Juni 2019 zeichnet in Bezug auf den vorangegangenen Bericht ein noch schlimmeres Bild der Lage der "Gülenisten" in der Türkei und konstatiert eine systematische Verfolgungsgefahr bei geringsten und vagsten Verdachts, wobei Anklageschriften häufig konstruierte Anschuldigungen enthalten. Auch Denunziation genügt hierbei, um die Staatsmaschinerie in Gang zu setzen, was auch der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945 nicht fremd ist. Diese Praxis hat sich nach aktuellen Medienberichten in der Türkei bis dato fortgesetzt und ein Ende ist unter der jetzigen Staatsführung nicht in Sicht. [...]