OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 19.02.2019 - 1 A 647/17 - asyl.net: M28386
https://www.asyl.net/rsdb/M28386
Leitsatz:

Tatsächliche Inanspruchnahme des Schutzes der UNRWA als Voraussetzung der ipso facto-Anerkennung:

Keine ipso facto-Anerkennung staatenloser Palästinenser*innen aus Syrien, wenn diese zwar ein Recht auf den Schutz der UNRWA gehabt hätten, diesen aber nicht in Anspruch genommen haben oder wenn der Schutz der UNRWA in dem Lager zum Zeitpunkt der Ausreise noch funktioniert hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Palästinenser, UNRWA, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Flüchtling ist nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG bzw. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - RL 2004/83 - Richtlinie 2011/95/EU - ein Ausländer, der den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gemäß Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genossen hat, dem aber ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen endgültig geklärt worden ist.

Nach der Rechtsprechung des Zweiten Senats des erkennenden Gerichts sind staatenlose Palästinenser aus Syrien, die von der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA), einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen im Nahen Osten, registriert sind, als Flüchtlinge nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG anzuerkennen, wenn sie Syrien infolge der Zerstörung ihres Flüchtlingslagers durch das Bürgerkriegsgeschehen verlassen haben und ihnen im Zeitpunkt ihrer Ausreise keine Möglichkeit offenstand, in anderen Teilen des Mandatsgebiets der UNRWA Schutz zu finden (siehe beispielsweise OVG des Saarlandes, Urteil vom 18.12.2017 - 2 A 541/17 - , juris, Rdnrn. 25 ff.). Der erkennende Senat hat sich dieser maßgeblich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteile vom 19.12.2012 - C-364/11 - und vom 17.6.2010 - C-31/09-, jeweils juris) gestützten Rechtsprechung angeschlossen (OVG des Saarlandes, Urteile vom 26.4.2018 - 1 A 593/17 und 1 A 645/17 -, jeweils juris).

Im Anwendungsbereich des Art. 1 Abschnitt D GFK bzw. des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83 und des § 3 Abs. 3 AsylG ist zwischen unterschiedlichen Gruppen staatenloser Palästinenser zu differenzieren.

Es gibt die Gruppe derer, die im Herkunftsland Syrien den Schutz oder Beistand des UNRWA genossen haben und dies durch Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung ihrer Registrierung (EuGH, Urteil vom 17.6.2010, a.a.O., Gliederungsnummer 52) oder auf andere Weise (EuGH, Urteil vom 17.6.2010, a.a.O., Gliederungsnummem 45 und 52) nachweisen können. Daneben steht die Gruppe derer, die zur Zeit ihres Aufenthalts in ihrem Herkunftsland zwar kraft ihrer Abstammung einen Anspruch auf Gewährung von Schutz bzw. Beistand des UNRWA gehabt hätten, tatsächlich aber einen solchen Schutz bzw. Beistand nicht in Anspruch genommen haben (EuGH, Urteil vom 17.6.2010, a.a.O., Gliederungsnummern 39 und 53).

Der erstgenannte Personenkreis unterfällt dem Regelungsgefüge des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83 bzw. des § 3 Abs. 3 AsylG mit der Folge, dass auf einen Antrag auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus behördlicher- bzw. gerichtlicherseits in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 3 RL 2004/83 zu prüfen ist, ob der Wegzug des Betreffenden durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt ist, die ihn zum Verlassen des Gebiets gezwungen und somit daran gehindert haben, den von der UNRWA gewährten Beistand zu genießen. Dies setzt voraus, dass der Betreffende sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befand und es der UNRWA unmöglich war, ihm in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der der Organisation übertragenen Aufgabe im Einklang stehen (EuGH, Urteil vom 19.12.2012 - C-364/11 juris, Gliederungsnummern 61 ff.). Ist dies zu bejahen und liegt keiner der Ausschlussgründe des Art. 12 Abs. 1 Buchst. b oder der Abs. 2 und 3 der Richtlinie vor, so ist dem Betreffenden "ipso facto" der Schutz der Richtlinie zuzuerkennen, ohne dass er nachweisen müsste, Verfolgung im Sinn des Art. 2 Buchst. c RL 2004/83 zu fürchten (EuGH, Urteil vom 19.12.2012, a.a.O., Gliederungsnummern 70 ff. und 81). Denn nach Art. 1 Abschnitt D Abs. 2 GFK genießen Personen, die Schutz bzw. Hilfe im Sinn des Abs. 1 der Vorschrift erhalten haben, alle Rechte des Abkommens, wenn der Schutz bzw. die Hilfe aus irgendeinem Grund weggefallen ist, ohne dass die Stellung dieser Personen durch entsprechende Beschlüsse der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geregelt worden wäre. Hiermit korrespondierend gibt § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG vor, dass unter besagten Voraussetzungen die Abs. 1 und 2 des § 3 AsylG anwendbar sind. Kraft dieser Rechtsfolgenverweisung (OVG des Saarlandes, Urteil vom 21.9.2017 - 2 A 541/17; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom
28.6.2017 - A 11 S 664/17 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.2.2012 - 18 A 901/11 -;
jeweils juris; Marx, Kommentar zum AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3 Rdnr. 77) ist die Flüchtlingseigenschaft ohne Einzelfallprüfung, ob die Voraussetzungen eines individuellen Verfolgungsschicksals im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG erfüllt sind, zuzuerkennen.

Der zweitgenannte Personenkreis staatenloser Palästinenser, die den Schutz der UNRWA nie in Anspruch genommen haben, wird demgegenüber von der vorgenannten Regelung des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83 nicht erfasst, was zur Folge hat, dass die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus voraussetzt, dass der Nachweis eines individuellen Verfolgungschicksals geführt wird (EuGH, Urteil vom 17.6.2010, a.a.O.,Gliederungsnummern 39 ff.). [...]