VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Beschluss vom 02.04.2020 - 5 B 155/20 HAL - asyl.net: M28391
https://www.asyl.net/rsdb/M28391
Leitsatz:

Eilrechtsschutz wegen drohender Retraumatisierung durch Rückkehr in die Russische Föderation:

Es kann offen bleiben, ob eine PTBS aktuell in Tschetschenien oder in der Russischen Föderation für die betroffene Person tatsächlich zugänglich ist, denn im vorliegenden Einzelfall ist davon auszugehen, dass angesichts der spezifisch erlittenen Traumatisierung durch Entführung und Folter nicht nur in Tschetschenien, sondern in der gesamten Russischen Föderation eine Retraumatisierung allein durch die Rückkehr bzw. Rückführung droht. Bei der Risikobeurteilung ist auch zu berücksichtigen, dass in der Russischen Föderation rassistische Vorurteile gegenüber Menschen aus dem Kaukasus weit verbreitet sind. Die hiermit verbundene Suizidgefahr begründet ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Tschetschenien, Posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Abschiebung, Suizidgefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Nach summarischer Prüfung ist zum jetzigen entscheidungserheblichen Zeitpunkt unter Berücksichtigung der von dem Antragsteller vorgelegten ärztlichen Unterlagen für ihn eine günstigere Entscheidung geboten, da der Rückkehr des Antragstellers in die Russische Föderation jedenfalls ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG entgegensteht.

Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erforderlich aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt das eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2006 - 1 C 18.05 - juris). Eine erhebliche konkrete Gefahr kann dabei zwar auch vorliegen, wenn die im Zielstaat drohende Beeinträchtigung in der Verschlimmerung einer Krankheit besteht, unter der der Ausländer bereits in der Bundesrepublik Deutschland leidet. Die Gefahr ist im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG "erheblich", wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verändern würde und "konkret", wenn der Antragsteller alsbald nach seiner Rückkehr in den Abschiebestaat in diese Lage käme, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten einer Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 – 9 C 58.96 – juris). Bei der Beurteilung der krankheitsbedingten Gefahr müssen sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung miteinbezogen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2006 - 1 C 18.05 - juris).

Als tatbestandsmäßig i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommen aus den vorgenannten Gründen auch Gefährdungen der psychischen Gesundheit in Betracht, wie die hier vom Antragsteller geltend gemachte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Diese stellt ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dar, wenn eine fachärztliche oder psychologische Therapie notwendig und diese im Heimatstaat nicht vorhanden oder nicht realisierbar ist (vgl. Stiegeler in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage, § 60 AufenthG Rn. 34). Auf die an sich im Zielstaat vorhandenen und grundsätzlich zugänglichen Behandlungsmöglichkeiten kommt es jedoch dann nicht an, wenn diese wegen der insbesondere bei Vorliegen einer PTBS im Herkunftsland zu erwartenden Retraumatisierung aufgrund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas für den Betroffenen nicht erfolgversprechend sind (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 28. Juni 2011 – 8 LB 221/09 - juris; VG München, Beschluss vom 26. April 2016 – M 16 S7 16.30786 – juris; VG Cottbus, Urteil vom 13. Januar 2017 – 1 K 706/12.A - juris). [...]

Angesichts der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Russischen Föderation für Tschetschenen in Verbindung mit den traumatischen Erlebnissen des Klägers und dessen zuvor dargestellten aktuellem Gesundheitszustand insbesondere in Gestalt der PTBS ist nach der gebotenen summarischen Prüfung die Annahme von Lebensgefahr für den Kläger durch Suizid im Falle einer Abschiebung in die Russische Föderation nachvollziehbar. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass sich fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments in der Russischen Föderation insbesondere gegen Kaukasier und Zentralasiaten richten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, 16. Dezember 2019, Seite 7). Das Gericht konnte aus diesem Grund hier offen lassen, ob eine PTBS aktuell in Tschetschenien oder in der Russischen Föderation für den Kläger tatsächlich zugänglich ist, d.h. ob für ihn ausreichende Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Denn im vorliegenden Einzelfall ist davon auszugehen, dass der Kläger angesichts der von ihm spezifisch erlittenen Traumatisierung nicht nur in Tschetschenien, sondern in der gesamten Russischen Föderation einer Retraumatisierung ausgesetzt ist. [...]