LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 31.03.2020 - L 4 AY 4/20 B ER - asyl.net: M28396
https://www.asyl.net/rsdb/M28396
Leitsatz:

Die Anspruchseinschränkung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz wegen "Einreise, um Sozialhilfe zu erlangen" unterliegt verfassungsrechtlichen Bedenken. Daher sind im Einrechtsschutz höhere Leistungen zu gewähren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sozialrecht, Asylbewerberleistungsgesetz, Einreise um Leistungen zu erlangen, Existenzminimum, Verhältnismäßigkeit, Sozialrecht, dauerhaft, Befristung, Menschenwürde, Verfassungsmäßigkeit, vorläufiger Rechtsschutz, Sanktion, Sanktionen,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 3 S. 1, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

§ 1a AsylbLG unterliegt seit einiger Zeit verfassungsrechtlicher Kritik, soweit in der Rechtsfolge der vollständige Wegfall des notwendigen persönlichen Bedarfs zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums vorgesehen ist (insbes. Brings/Oehl, ZAR 2016, 22; Janda SGb 2018, 344; Kanalan, ZfSH/SGB 2018, 241; Oppermann, ZESAR 2017, 55 (60 f.); dies. in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 207 ff.; Voigt, info also 2016, 99). Auch wurde schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – in der Sanktionierung der Einreise, um Leistungen zu erlangen, eine am Maßstab von BVerfGE 132, 134 verfassungsrechtlich unzulässige Migrationssteuerung gesehen (Voigt, info also 2016, 99 (102); erwägend SG Münster, Beschluss vom 1. März 2013 - S 12 AY 13/13 ER -, juris Rn. 12 f.) und an der Verfassungskonformität gezweifelt, weil dieser Tatbestand den Betroffenen keine Möglichkeit gibt, ihr Verhalten so zu ändern, dass sie wieder bedarfsdeckende Leistungen erhalten (allgemein Janda, ZAR 2013, 175 (180 f.); dies erwägend Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2013 – L 4 AY 17/13 B ER –, juris Rn. 28).

Auf der Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – sind zwar gesetzlich vorgesehene Unterdeckungen des zur Existenzsicherung Benötigten aus bedarfsunabhängigen Erwägungen nicht von vornherein ausgeschlossen. Jedoch ist bereits der Kreis legitimer Zwecke der Auferlegung von Mitwirkungs- oder Unterlassungspflichten und ihrer Sanktionierung eng zu ziehen (zum Folgenden BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, juris Rn. 121, 123 ff., 130 f.). Das Grundgesetz kennt keine allgemeinen Grundpflichten der Bürgerinnen und Bürger. Insbesondere die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert; sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht jedem Menschen aus sich heraus zu. Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfG a.a.O. Rn. 123). Die Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele, insbesondere migrationspolitischer Ziele, nicht zu relativieren (vgl. BVerfGE a.a.O. Rn 120; E 132, 134 (173 Rn. 95)). Der soziale Rechtsstaat ist aber darauf angewiesen, dass Mittel der Allgemeinheit, die zur Hilfe für deren bedürftige Mitglieder bestimmt sind, nur in Fällen in Anspruch genommen werden, in denen wirkliche Bedürftigkeit vorliegt (vgl. BVerfGE a.a.O. Rn. 124). Eine Anspruchseinschränkung kann die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nur dann wahren, wenn sie nicht darauf ausgerichtet ist, repressiv Fehlverhalten zu ahnden, sondern darauf, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden (BVerfG a.a.O. Rn. 131). [...]

Bei wortlautgetreuer Auslegung handelt es sich bei § 1a Abs. 1 AsylbLG a.F. bzw. § 1a Abs. 2 AsylbLG um einen repressiven Sanktionstatbestand. Die Leistungsabsenkung knüpft an die prägende Einreisemotivation an (vgl. Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 51). Es handelt sich nicht um die Sanktionierung des Unterlassens einer Mitwirkungshandlung, die noch nachgeholt werden könnte, sondern um die Sanktionierung eines vollständig in der Vergangenheit liegenden Tuns, nämlich die Sanktionierung der Einreise, um Leistungen zu beziehen. Hierdurch wird der leistungsberechtigten Person keine Handlungsoption eröffnet, um die Sanktion durch ein späteres Handeln zu beenden (vgl. zu den daraus folgenden verfassungsrechtlichen Bedenken bereits Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2013 – L 4 AY 17/13 B ER –, juris Rn. 28). Eine Möglichkeit der Rechtfertigung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besteht auch nicht vor dem Hintergrund, dass die Norm zumindest mittelbar auf die Ausreise der betreffenden Person und damit auf die Beendigung eines Rechtsmissbrauchs abzielt (vgl. Cantzler, AsylbLG, 2019, § 1a Rn. 2 und Rn. 17 m.w.N.). Die Ausreise führt dazu, dass hierdurch die ursprünglich berechtigte Person den räumlichen Gewährleistungsbereich von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und den Anwendungsbereich des AsylbLG verlässt; mithin ginge durch diese vermeintliche Mitwirkungshandlung der Anspruch gerade unter. Anders als bei einzelnen anderen Tatbestandsvarianten des § 1a AsylbLG verbliebe kein Zeitraum nach erfolgter Mitwirkung, für den der ungekürzte Anspruch bei verfassungskonformer Auslegung wiederaufleben könnte (s.o., BVerfG a.a.O. Rn. 133). Auch dies bestätigt den repressiven Charakter der Vorschrift. [...]