VG Trier

Merkliste
Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 26.02.2020 - 7 K 2325/19.TR - asyl.net: M28428
https://www.asyl.net/rsdb/M28428
Leitsatz:

Zur Zuständigkeit für das Asylverfahren eines nachgeborenen Kindes bei Anerkennung der Eltern in unterschiedlichen Mitgliedstaaten:

"1. Wurde den Eltern eines nachgeborenen Kindes in unterschiedlichen Mitgliedstaaten internationaler Schutz gewährt oder sind unterschiedliche Staaten zur Durchführung der Asylverfahren der Eltern zuständig, ist bei der Entscheidung über die Zuständigkeit für das nachgeborene Kind als Kriterium zunächst das Kindeswohl unter objektiven Gesichtspunkten heranzuziehen. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, mit welchem Elternteil das Kind eine faktische familiäre Gemeinschaft führt und ob einem Elternteil bereits internationaler Schutz zuerkannt oder ein entsprechender Antrag abgelehnt worden ist (Rn. 25).

2. Fehlt es an manifesten, objektiven Anhaltspunkten dafür, welche Situation dem Wohl des Kindes am ehesten entspricht, ist unter entsprechender Anwendung von Art. 11 b) Dublin III-Verordnung (juris: EUV 604/2013) der Staat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, der für die Prüfung des von dem ältesten Elternteil gestellten Asylantrags zuständig ist (Rn. 26).

3. Auch Art. 8 EMRK (juris: MRK) schließt nicht grundsätzlich aus, dass es während der Durchführung des Asylverfahrens zu temporären Trennungen der Familienangehörigen kommen kann. Soweit dies im Einzelfall unzumutbar sein sollte, ist dem bei der Prüfung inländischer Abschiebungshindernisse Rechnung zu tragen (Rn. 29)."

(Amtliche Leitsätze, siehe zur Zuständigkeit für die Asylverfahren nachgeborener Kinder auch BVerwG, Urteil vom 23.06.2020 - 1 C 37.19 - asyl.net: M28715)

Schlagwörter: Drittstaatenregelung, Dublinverfahren, internationaler Schutz in EU-Staat, Malta, Kroatien, nachgeborenes Kind, in Deutschland geborenes Kind, besonders schutzbedürftig, Zuständigkeit, Dublin III-Verordnung, Aufnahmegesuch, Analogie, Überstellungsfrist, internationaler Schutz in EU-Staat, Schutz von Ehe und Familie, Familieneinheit, Kindeswohl,
Normen: VO 604/2013 Art. 20 Abs. 3 Satz 2, VO 604/2013 Art. 11, VO 604/2013 Art. 21 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

19 1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn nach Maßgabe der Dublin III-Verordnung nicht die Bundesrepublik Deutschland, sondern ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies ist hier der Fall, da der Mitgliedstaat Kroatien zur Durchführung des klägerischen Asylverfahrens zuständig ist.

20 Die Zuständigkeit Kroatiens ergibt sich vorliegend aus Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-Verordnung. Nach dieser Vorschrift ist die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen nach Art. 2 lit. g) Dublin III-Verordnung entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Ebenso wird bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss. [...]

24 b. Des Weiteren ist die Beklagte zu Recht davon ausgegangen, dass das Asylverfahren der Klägerin in die Zuständigkeit des Mitgliedsstaates Kroatien fällt, da dieser für das Asylverfahren ihrer Mutter zuständig war.

25 Wurde den Eltern eines minderjährigen Antragstellers in unterschiedlichen Mitgliedstaaten internationaler Schutz gewährt oder sind unterschiedliche Staaten zur Durchführung der Asylverfahren zuständig, ist bei der Entscheidung über die Zuständigkeit für das nachgeborene Kind zunächst das Kindeswohl als Kriterium heranzuziehen. Sowohl Art. 6 Abs. 1 als auch Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung belegen, dass das Wohl des Kindes in jeder Situation eine vorrangige Erwägung darstellt (vgl. zu Vorstehendem: Urteil des erkennenden Gerichts vom 12. Februar 2020 – 7 K 5173/19.TR –, bislang nicht veröffentlicht; a.A. mit der Erwägung, dass Art. 20 Abs. 3 S. 2 Dublin III-Verordnung stets an den für den Antrag der Kindsmutter zuständigen Mitgliedsstaat anknüpfe: VG Würzburg, Beschluss vom 6. Juni 2019 – W 8 S 19.50526 –, Rn. 11, juris; VG Dresden, Urteil vom 10. Dezember 2018 – 12 K 553/16.A –, Rn. 19, 24, juris). Das Kindeswohl selbst lässt sich nicht anhand eines abstrakten Maßstabes beurteilen, sondern ist stets in jedem Einzelfall konkret zu bestimmen (vgl. Lugani, in: MüKoBGB, 8. Auflage 2020, BGB § 1697a Rn. 3). Hierbei ist in Fällen wie dem vorliegenden insbesondere zu berücksichtigen, mit welchem Elternteil das Kind eine faktische familiäre Gemeinschaft führt und ob einem Elternteil bereits der internationale Schutz zuerkannt oder ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt worden ist (vgl. Urteil des erkennenden Gerichts vom 12. Februar 2020).

26 Fehlt es an manifesten, objektiven Anhaltspunkten dafür, welche Situation dem Wohl des Kindes am ehesten entspricht, ist unter entsprechender Anwendung von Art. 11 b) Dublin III-Verordnung der Staat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, der nach den Zuständigkeitskriterien für die Prüfung des von dem ältesten Elternteil gestellten Asylantrags zuständig ist. Diese Bestimmung ist analog anwendbar, da insoweit eine planwidrige Regelungslücke vorliegt. Insbesondere Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung enthält keine Bestimmungen für den Fall, dass verschiedene Mitgliedstaaten für die Familienangehörigen eines minderjährigen Antragstellers zuständig sind.

27 Dass diese Regelungslücke planwidrig ist, ergibt sich zum einen aus dem Telos der Bestimmung des Art. 11 Dublin III-Verordnung. Hieran wird nämlich deutlich, dass allein der Umstand, dass unterschiedliche Mitgliedstaaten zur Durchführung der Asylverfahren von Familienangehörigen zuständig sind, nicht dazu führen soll, dass im Zweifel der Staat zuständig wird, in dem sich die betreffenden Familienangehörigen (zufällig) aufhalten. Vielmehr sieht Art. 11 b) Dublin III-Verordnung gerade auch für eine solche Situation ein objektives Kriterium zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates vor. Zum anderen sprechen Sinn und Zweck der Dublin III-Verordnung, dagegen, dass der Verordnungsgeber die Zuständigkeit für das nachgeborene Kind völlig von der für die Eltern lösen wollte, obschon sogar zwei mögliche Anknüpfungspunkte vorliegen. Zielrichtung der Dublin III-Verordnung ist es im Hinblick auf Familienangehörige gemäß vorstehenden Ausführungen nämlich u.a., hinsichtlich sämtlicher Familienangehöriger kohärente Entscheidungen zu ermöglichen, indem nur ein Mitgliedstaat mit deren Verfolgungsschicksal – welches oftmals ähnlich oder gar identisch sein dürfte – befasst wird (vgl. Erwägungsgrund Nr. 15). Dem liefe es zuwider, wenn für das nachgeborene Kind letztlich der Staat der erstmaligen Antragstellung (Art. 3 Abs. 2 Dublin III-Verordnung) zuständig würde, welcher bis dahin weder mit dem Fluchtschicksal des Vaters noch dem der Mutter befasst war. Da das nachgeborene Kind sich in aller Regel auf die Verfolgungsgründe der Eltern beruft, hätte dies in der Sache eine Überprüfung der in den beiden anderen Mitgliedsstaaten getroffenen Entscheidung zur Gewährung internationalen Schutzes zur Folge – mit der Möglichkeit divergierender Entscheidungen.

28 Um dies zu vermeiden ist es sachgerecht, ebenso wie in den von Art. 11 Dublin III-Verordnung erfassten Fällen das Kriterium des Alters der Antragsteller heranzuziehen und auf diese Weise eine Auswahl zwischen den beiden möglichen zuständigen Staaten zu treffen. Zwar weist dieses Kriterium inhaltlich keinen Bezug zum Kindeswohl auf, jedoch zeigt sich an Art. 11 b) Dublin III-Verordnung, dass es sich um ein im Dublin-System anerkanntes, objektives und zur Bestimmung der Zuständigkeit geeignetes Kriterium handelt, welches vorliegend zumindest die Anknüpfung an einen Elternteil ermöglicht.

29 Dieser Vorgehensweise steht nicht entgegen, dass der jüngere Elternteil (hier der Vater) und das nachgeborene Kind (hier die Klägerin) durch die Anknüpfung der Zuständigkeit an den älteren Elternteil grundsätzlich zur Ausreise in unterschiedliche Mitgliedstaaten verpflichtet sind. Das Gericht verkennt insoweit nicht, dass die Dublin III-Verordnung, wie oben bereits ausgeführt, grundsätzlich darauf ausgelegt ist, eine Trennung von Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 g) Dublin III-Verordnung zu vermeiden (vgl. Erwägungsgrund Nr. 15, Art. 9 ff. Dublin III-Verordnung), jedoch liefe es dem Konzept eines objektiven Zuständigkeitsregimes entgegen, wenn die Eltern nachgeborener Kinder es in der Hand hätten, durch die Wahl des Staates, in dem das Kind geboren wird, nach eigenem Belieben zu bestimmen, wo dessen Asylverfahren durchgeführt wird und auf diese Weise letztlich missbräuchlich ein Bleiberecht für die gesamte Familie zu erzielen, obwohl der betreffende Staat für keinen der Elternteile originär zuständig ist. Auch Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK – schließt nicht grundsätzlich aus, dass es während der Durchführung des Asylverfahrens zu temporären Trennungen der Familienangehörigen kommen kann (vgl. etwa jüngst auch BayVGH, Beschluss vom 17. Dezember 2018 – 10 CE 18.2177 –, Beschluss vom 19. Juni 2018 – 10 CE 18.993 – und Beschluss vom 21. Juli 2015 – 10 CS 15.859 u.a. –; zum Ehegattennachzug BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 2017 – 1 C 1.16 –, jeweils juris). Soweit dies im Einzelfall unzumutbar sein sollte, ist dem bei der Prüfung inländischer Abschiebungshindernisse Rechnung zu tragen. [...]